Britta Hochkirchen: Bildkritik im Zeitalter der Aufklärung. Jean-Baptiste Greuzes Darstellungen der verlorenen Unschuld (= Ästhetik um 1800; Bd. 12), Göttingen: Wallstein 2018, 392 S., 18 Farb-, 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1990-5, EUR 42,00
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Meist ohne notwendig direkten Bezug darauf kam im Gefolge von Reinhart Kosellecks "Sattelzeit" - also der Vorstellung von einer Epochenschwelle zwischen Früher Neuzeit und Moderne in dem Jahrhundert seit 1750 - auch in der Kunstgeschichte der Gedanke auf, dass die Grundlagen für die Moderne nicht etwa im frühen 20. Jahrhundert mit der nicht-gegenständlichen Kunst gelegt wurden, sondern dass die entscheidenden Bewegungen früher lagen, präziser gesagt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Drei Bücher haben in diesem Feld für besondere Furore gesorgt und es dürfte kein Zufall sein, dass dabei die französische Malerei (in zweiter Linie die englische) im Mittelpunkt stand: Michael Frieds "Absorption and Theatricality. Painting and the Beholder in the Age of Diderot" von 1980, Norman Brysons "Word and Image. French Painting of the Ancien Regime" von 1981 und Werner Buschs "Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne" von 1993. Alle drei Autoren haben auch das vorliegende Buch zu Jean-Baptiste Greuzes Bildern der (verlorenen) Unschuld stark beeinflusst, von dem gesagt werden kann, dass es die Ansätze aus den 1980er und 1990er Jahren auf hohem theoretischen Niveau aufnimmt und weitertreibt, im Fall von Busch und Bryson affirmativ, bei Fried kritisch.
Als Einführung zu Jean-Baptiste Greuze (1725-1805) wird man das Buch kaum empfehlen wollen und so kommt der Name des Malers auch nur im Untertitel vor. Eigentlich geht es um "Bildkritik im Zeitalter der Aufklärung" und dieser Titel ist wörtlich zu nehmen. Es ist damit keinesfalls eine kunstkritische Reaktion auf den französischen Maler, der gewöhnlich als tränentreibender Moralist abgehandelt wird, gemeint. Hochkirchen greift die Kritik der Zeit und des 19. Jahrhunderts durchaus auf, adressiert aber vor allem eine reflexive Dimension, die im Bild selber anwesend ist, eine Dimension, in der das Bild selber zum Bildnerischen kritisch Stellung nimmt. Realisiert wird diese Kritik, die dem klassischen Ikonografen und Stilhistoriker ein wenig zerebral vorkommen mag, in einer Reihe von "Einfiguren-Historienbildern", denen in dem nicht eben schlanken Buch eine thick description von hohen Graden zu Teil wird.
Die immer wieder und von allen nur denkbaren Seiten durchgespielte Grundbeobachtung zu Greuzes Unschuldsbildern lässt sich mit dem Konzept des antithetischen Bildes benennen. Überall da, wo der Verlust der Unschuld ikonografisch plausibel wird - im zerbrochenen Krug oder im ebenso zerbrochenen Spiegel, im toten Vogel im Käfig usw. - bleibt die Unschuld selber präsent, vor allem in der Anschaulichkeit der jeweils dargestellten jungen Frau. Angeschlossen an diesen analytischen Befund werden umfangreiche bildtheoretische Beobachtungen zum Sensualismus des 18. Jahrhunderts, in dem die Sinnlichkeit der Kunst nicht mehr schlicht unter die Idee der Ratio zu subsumieren ist. Stattdessen bewahrt sie ihre unhintergehbare Eigenständigkeit, die Hochkirchen gewöhnlich mit dem Begriff der Opazität benennt. Gewendet ist ein solcher Bildbegriff vor allem gegen die Vorstellung des akademischen Bildes des grand siècle, das auf unbedingte Transparenz der zu verbildlichenden Idee Wert legte und jegliche Eigenwertigkeit der Sinnlichkeit bekämpfte. Neben die Unhintergehbarkeit der sinnlichen Ebene tritt hier die Eigenständigkeit des betrachtenden Subjektes, in dem sich jegliche Bedeutung nicht mehr einfach nur niederschlägt, sondern recht eigentlich erst konstituieren muss.
Autonom ist dieses neue Bild insofern, als es sich von den Repräsentationsverpflichtungen der Klassik entfernt und Bedeutung jeweils eigenständig konstituiert. Autonom ist es aber nicht - und hier setzt die Kritik an Michael Frieds Vorstellung von Absorption bzw. Versunkenheit an - insofern es sich etwa gegen jegliche Betrachteransprache verschließt. Denn hierin würde das moderne Bild Frieds eigentlich nur die Forderungen klassischer Repräsentation erfüllen, von denen es sich eigentlich absetzt. Vielmehr ist die Selbstabschließung gegen den Betrachter (konkretisiert in der berühmten Vorstellung von der "vierten Wand") bei aller Antirhetorizität der bildnerischen Konzeption selber eine Technik und entbehrt jeglicher Natürlichkeit. Autonomie ist insofern in den Augen der Verfasserin teuer erkauft, als sie sich in die Abhängigkeit von einem Zuschauer respektive einer Zuschauerin begibt, der oder die die Bedeutungsebene ohne Garantie der Allgemeinverbindlichkeit erst konstituiert.
Was hier in dürren Worten daherkommt, erfährt in Hochkirchens Buch eine vielfältige und sprachlich kunstvolle Bearbeitung. Unter anderem wird auch eine historische Rejustierung des Autonomiebegriffs angestrebt, die sich gegen eine in den letzten Jahren in den Augen des Rezensenten wenig zielführende Proliferation der Idee künstlerischer Eigenständigkeit wendet, welche mit Phänomenen wie "Metapikturalität" oder "Selbstreflexivität" jetzt schon in der Kunst des 14. Jahrhunderts wesen soll (vgl. 178f., Anm. 37). Gegen solche Tendenzen zur Universalisierung der künstlerischen Autonomievorstellung setzt die Verfasserin eine präzise Verortung im praktischen wie theoretischen Diskurs und greift auf Beobachter wie Denis Diderot und die postrationalistische Philosophie der Sensualisten zurück, ohne die die Vorstellung einer selbst-setzenden Kunst eigentlich gar nicht denkmöglich erscheint. Mit ihren umfangreichen, wichtigen Überlegungen, die auch Reflexionen vor allem aus den Literatur- und Theaterwissenschaften berücksichtigen, liefert Hochkirchen einen eindrücklichen Beitrag zur Erforschung der modernen Kunst.
Hubertus Kohle