Aldo Borlenghi / Clément Chillet / Virginie Hollard et al.: Voter en Grèce, à Rome et en Gaule. Pratiques, lieux et finalités, Lyon: MOM Éditions 2019, 526 S., ISBN 978-2-35668-062-4, EUR 50,00
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Christian Rollinger: Amicitia sanctissime colenda. Freundschaft und soziale Netzwerke in der Späten Republik, Heidelberg: Verlag Antike 2014
Valentina Arena: Libertas and the Practice of Politics in the Late Roman Republic, Cambridge: Cambridge University Press 2012
Carsten Hjort Lange: Triumphs in the Age of Civil War. The Late Republic and the Adaptability of Triumphal Tradition, London: Bloomsbury 2016
Wie Titel und Untertitel dieses Sammelbandes bereits verraten, handelt es sich hier um ein höchst ambitioniertes multidisziplinäres Projekt, das an der Universität 'Lumière Lyon 2' angesiedelt war. Dabei sollten nicht nur historische und archäologische Fragen, Ansätze und Methoden systematisch miteinander vermittelt werden, sondern möglichst auch die Potentiale eines interkulturellen Vergleichens ausgelotet und empirisch genutzt werden (Preface, 9-12). Darin liegt eine erste Besonderheit des Projekts - nachdem komparative Analysen, etwa der politischen Kulturen der Stadtstaaten des antiken Griechenland und des (republikanischen) Rom (sowie der italienischen Renaissance), ja bereits einige interessante neue Perspektiven und auch Resultate erbracht haben [1], wird hier der Blick auf das (vorrömische) Gallien und seine oppida ausgeweitet.
Dementsprechend sind die insgesamt 21 Beiträge zu konkreten Themen in drei Sektionen eingeteilt, an deren Anfang jeweils eine dokumentierte Einleitung zum Stand der historisch-archäologischen Forschung zu Wahl- und sonstigen Abstimmungsverfahren im antiken Griechenland (Liliane Lopez-Rabatel, 15-24), im (republikanischen) Rom (Clément Cillet, Virginie Hollard, 147-155) und in der "Monde Gaulois" (Aldo Borlenghi, 389-395) steht. Der abschließende Essay von Yves Sintomer (519-526) geht schließlich noch einmal auf die erwähnten Potentiale und Resultate von interkulturellen und transepochalen Vergleichen ein.
Die empirischen Beiträge sind thematisch und methodisch viel zu heterogen, um in diesem Rahmen einzeln und detailliert besprochen werden zu können - dazu trägt allerdings vor allem bei, dass die drei systematischen Schwerpunkte "Pratiques", "Lieux", "Finalités" in den Sektionen quantitativ sehr ungleichmäßig gewichtet und von den Beiträgern auch qualitativ-inhaltlich einigermaßen unterschiedlich aufgefasst wurden. So finden sich etwa im ersten Teil auch Beiträge zur philosophisch-literarischen Konstruktion bzw. Widerspiegelung von Abstimmungsverfahren in Platons Nomoi (Marcel Piérart, 57-72) und in der attischen Tragödie (Christine Maudit, 73-92), während im dritten Teil die Suche nach konkreten 'Orten' in Gallien auf der Basis archäologischer Zeugnisse im weitesten Sinne im Vordergrund steht - hier geht es etwa um die Rekonstruktion des "espace public" eines konkreten oppidum (Catherine Gaeng, Patrice Méniel, Jeannot Metzler, 425-450) und die Funktion von Heiligtümern (Matthieu Poux, 471-518).
Nur die Beiträge zu Rom sind konsequent nach diesen Schwerpunkten unterteilt. Grundsätzlich sind mit "Praktiken" offensichtlich die unterschiedlichen Verfahren der Entscheidungsfindung bei Wahlen von Funktionsträgern, Inkraftsetzung von verbindlichen Normen, Feststellung von Schuld und Festsetzung von Strafen und schließlich auch Varianten des technischen Ablaufs gemeint. Die "Orte" sind in doppelter Bedeutung zu verstehen: Einerseits geht es um die für diese Verfahren reservierten Räume in der politischen Topographie - etwa Agora, Pnyx und Areopag in Athen, Forum, Comitium und Marsfeld in Rom; andererseits werden (teilweise dabei zugleich) die "lieux" im metaphorischen Sinne thematisiert, nämlich die institutionellen 'Orte' der genannten Verfahren - also Primärversammlungen, Ratsorgane, Gerichte. Schließlich scheinen die "Zwecke" im Sinne von Funktionen gemeint zu sein - hier geht es nach dem Verständnis des Rezensenten etwa um die Herstellung von Akzeptanz und Zustimmung, also um "Legitimation durch Verfahren" im Sinne Niklas Luhmanns.
Hier sei zumindest auf einige Beiträge hingewiesen, die zumindest nach der Ansicht des Rezensenten hervorgehoben zu werden verdienen: In der Synthese zu "procédures et équipement" der Abstimmungsverfahren in Griechenland (Liliane Lopez-Rabatel, 25-56) und zur athenischen Pnyx (Jean-Charles Moretti, 121-144) gelingt ein kombinierter Blick auf alle drei der genannten systematischen Dimensionen. Die Deutung der Wahlen in Rom zwischen "emblèmes de la souveraineté ou artifices politiques de l'oligarchie" (Dominique Hiebel, 159-177) ist zumindest auch eine Stellungnahme zu der lebhaften Debatte um die politische Kultur der Republik. [2] Die Losung als alternatives Verfahren der Rekrutierung von Funktionsträgern verdient sicherlich eine intensive Beschäftigung (Frédéric Hurlet, 185-201) - gerade vor dem Hintergrund eines neuen Interesses an dieser Variante. [3] Die Beiträge zu den Räumen als 'Orte' der Versammlungen in der politisch-sakralen Topographie des republikanischen Rom (Michel Humm, 261-276), etwa zum Comitium (Clément Chillet, 277-296), stellen nicht nur willkommene Synthesen dar - wie auch der Überblick zu den Räumen in italischen Städten, Kolonien und Munizipien (Aldo Borlenghi, 297-332) -, sondern bieten auch durchaus neue Perspektiven. Das gilt auch für die Studie zu einem konkreten Schritt im Wahlverfahren, der Nominierung der Kandidaten für die Magistraturen (Virginie Hollard, 355-367).
In doppelter Hinsicht stellt der imposante Band ein Lehrstück dar - einerseits über die Freuden, die die kollegiale Zusammenarbeit den beteiligten Kolleg/inn/en in einem dafür besonders geeigneten institutionellen Kontext wie dem Lyoner Maison de l'Orient et de la Méditerranée offensichtlich bereitet hat, andererseits über die Leiden, die aus einer gewissen Frustration über die Schwierigkeiten und Grenzen interdisziplinären Austauschs resultieren.
Anmerkungen:
[1] Anthony Molho / Kurt Raaflaub / Julia Emlen (eds.): City-States in Classical Antiquity and Medieval Italy, Stuttgart 1991; Mogens H. Hansen (ed.): A Comparative Study of Thirty City-State Cultures, Kopenhagen 2000; Dean Hammer (ed.): A Companion to Greek Democracy and the Roman Republic, Malden, MA 2015.
[2] Vgl. dazu Karl-Joachim Hölkeskamp: Reconstructing the Roman Republic. An Ancient Political Culture and Modern Research, Princeton 2010; ders.: 'Cultural Turn' oder gar Paradigmenwechsel in der Althistorie? Die politische Kultur der römischen Republik in der neueren Forschung, in: Historische Zeitschrift 309 (2019), 1-35.
[3] S. jetzt die einschlägigen Beiträge in Liliane Lopez-Rabatel / Yves Sintomer (eds.): Sortition and Democracy. History, Tools, Theories, Exeter 2020.
Karl-Joachim Hölkeskamp