Rezension über:

Marcel Bois / Bernadette Reinhold (Hgg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk (= Edition Angewandte), Basel: Birkhäuser Verlag 2019, 360 S., 45 Farbabb., ISBN 978-3-0356-1959-1, EUR 39,95
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Rezension von:
Ingrid Leonie Severin
art service, Dargow
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Ingrid Leonie Severin: Rezension von: Marcel Bois / Bernadette Reinhold (Hgg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk, Basel: Birkhäuser Verlag 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 1 [15.01.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/01/34133.html


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Marcel Bois / Bernadette Reinhold (Hgg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht.

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Der dokumentarisch angelegte Sammelband [1] ist chronologisch eng an der Biografie entlang in fünf perspektivische Schwerpunkte geordnet und versammelt differenzierte und interessante neue Einsichten in Leben und Werk der mittlerweile berühmten Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. [2] Er beabsichtigt die verengte Sicht auf die Architektin aufzubrechen: Als Tagungsband bietet diese Publikation, die einem Geburtstag geschuldet ist, einen sehr breiten politischen und persönlichen biografischen Rahmen, in den man die Architektin und ihre Lebensleistung einstellt. Die ersten vier Beiträge, die unter "Biografische und geschlechterhistorische Perspektiven" firmieren, erweitern eine über das Werk der Architektin auf zwei Projekte eingeengte Betrachtung, wie sie uns in vielen bisherigen Veröffentlichungen über das Werk der Architektin begegnen. [3] Die Autorinnen beschreiben differenziert und ausführlich den umfassenderen Kontext, in dem ihr Werk und Tätigkeitsspektrum zu analysieren und zu betrachten ist. Dies ist besonders gelungen in den gut recherchierten Texten von Sabine Plakolm-Forsthuber zur schwierigen Ausbildungsmöglichkeit und der Genese des Berufs der Architektin in Wien [4] und in Bernadette Reinholds bestens dokumentierter profunder Auseinandersetzung mit den autobiografischen Quellen der Architektin und Widerstandskämpferin. Beide Aufsätze sind äußerst spannend und lesenswert!

Unter der zweiten Perspektive bündeln die Herausgeber chronologisch die diversen beruflichen Stationen und Tätigkeitsfelder der inter- bzw. transnational tätigen Architektin: Von ihrem frühen Engagement in der Wiener Siedlerbewegung über das große Spektrum von Projekten für das Neue Frankfurt [5], ihre Zeit in China 1934-1936, die bislang kaum erforschten sowjetischen Jahre von 1939-1937, das mehrjährige Exil in der Türkei von 1938-1940 sowie die spätere Beratungstätigkeit für die DDR. [6] Thomas Flierl [7] gelingt in seinem Beitrag ein kritischer Blick über diese Stationen. Besonders spannend und aufschlussreich ist die Neudeutung eines China-Reisetagebuchs von 1956 von Helen Young Chang und dessen Auswirkung auf Planungen von Wohngebäuden und Kindergärten.

Für die dritte Perspektive wird der Aspekt der persönlichen Begegnung differenziert beleuchtet, eine erfreuliche Tatsache, sind sonstige Forschungen doch eher sachlich und nüchtern. Die getroffene Auswahl ermöglicht einen wichtigen Einblick in die fachliche Vielfalt und politische Bandbreite ihrer zwischenmenschlichen Netzwerke. Eine wesentliche Rolle spielte beispielsweise die frühe Freundschaft zu Otto Neurath in einem Zeitraum, aus dem die Kontakte zur internationalen Bewegung stammen. Günter Sandner beschreibt sehr ausführlich das Auf und Ab in dieser freundschaftlichen Beziehung, die in der Wiener Siedlungsbewegung wurzelt und sich später aufgrund politischer Differenzen während der Exilzeit Neuraths entfremdet. Weitere Einzelbetrachtungen sind den Arbeiten von Herbert Eichholzer, und Hans Wetzler gewidmet.

Die vierte Aufsatzreihe beleuchtet en detail die politische Entwicklung der Architektin, ihren Kampf gegen das Nazi-Regime und ihre kommunistische Einstellung.

Perspektive fünf widmet sich der Rezeption des architektonischen Werkes mit dem Fokus auf Kindergärten und Küchen - eine bedauerliche Einschränkung, die den vorher erfreulich weit gespannten Horizont der Betrachtung wieder eng zusammenzurrt.

Fazit:

Die Publikation spannt einen großen Bogen über eine innovative, politisch agierende Architektin im transnationalen Kontext des zwanzigsten Jahrhunderts. Viele der einzelnen Betrachtungen sind substantiell und informativ, zeigen aber auch die Desiderate in der Forschung klar auf. Insgesamt ist diese Forschung ausbaufähig. Beispielsweise die Analyse von Margarete Schütte-Lihotzkys Werk im Kontext der Erforschung der Arbeitsweise und Werkkomplexe von Architektinnen, die im angelsächsischen Raum weitaus intensiver erfolgt. [8] Oder der Aufenthalt und ihre Arbeit in Moskau verspricht einiges Erhellendes durch Archivforschung vor Ort. Bedauerlich ist allerdings, dass diese Publikation angesichts der Bedeutung der Architektin für die Architektur nicht zugleich mehrsprachig veröffentlicht wurde oder zumindest mehrsprachige Zusammenfassungen der Aufsätze diese Forschungsergebnisse international zugänglich macht. Die herausragende Bedeutung der Architektin und Planerin würde dies ohnehin rechtfertigen. Für die praktische Lektüre des Buches wäre ein Abbildungsverzeichnis eine sinnvolle Ergänzung.


Anmerkungen:

[1] Tagung: Buchpräsentation: Marcel Bois / Bernadette Reinhold (Hgg.): Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk, 22.11.2019, Wien, https://www.univie.ac.at/Geschichte/salon21/?p=41285; Die politische Margarete Schütte-Lihotzky, 10.10.2018, https://www.youtube.com/watch?v=DcuxPeo0YE8.

Zu dieser Publikation gibt es einige inhaltlich ausführende Rezensionen: Katja Weingartshofer, in: https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/marcel_bois_bernadette_reinhold_-8536.html; Matthias Alexander: Ein sachlicher Blick auf die Welt. Sie stehen für eine Reformarchitektur, die die Gemeinschaft im Blick hatte: Margarete Schütte-Lihotzky und Wilhelm Schütte, in: Faz 13.01.2020; Riccardo Altieri, in: H-Soz-Kult, 17.01.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29068.

[2] Der bisherige Schwerpunkt der Forschung liegt auf ihrer ersten Lebenshälfte - und hier wiederum vor allem auf drei relativ kurzen Phasen: ihren ersten Berufsjahren im Roten Wien (1920-1925), der Tätigkeit für das Neue Frankfurt (1926-1930) sowie ihrer Widerstands- und Gefängniszeit (1940-1945).

[3] In vielen Veröffentlichungen wird das Werk der Architektin auf zwei Projekte eingeengt: sie schuf weltweit zahlreiche Kindergärten und erfand zwischen 1925 und 1930 die "Frankfurter Küche". Hätte sie gewusst, dass sie einmal nur darauf reduziert würde, hätte sie "diese verdammte Küche nie gebaut" (61).

[4] Siehe auch Ausstellungskatalog: Mary Pepchinski [u.a.] (Hgg.): Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architektenberuf, Frankfurt a.M. 2017, rezensiert von Marcel Bois, in: H-Soz-Kult 2017, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-293.

[5] Das Neue Frankfurt, https://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/fachinfo/www/kunst/digilit/artjournals/neue-frankfurt.html.

[6] Margarete Schütte-Lihotzky: Erinnerungen aus dem Widerstand 1938-1945, hg. von Chup Friemert, Hamburg 1985.

[7] Margarete Schütte-Lihotzky / Wilhelm Schütte: "Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!". Der Gefängnis-Briefwechsel 1941-1945, hg. von Thomas Flierl, Berlin 2021.

[8] Archive: https://spec.lib.vt.edu/iawa/. Eine umfangreiche Übersicht für einen internationalen Kontext bietet: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_women_architects; oder https://en.wikipedia.org/wiki/Women_in_architecture.

Ingrid Leonie Severin