Rezension über:

Frank Grunert / Matthias Hambrock / Martin Kühnel (Hgg.): Christian Thomasius: Briefwechsel. Historisch-kritische Edition, Bd. 1: 1679-1692. Unter Mitarbeit von Andrea Thiele, Berlin: de Gruyter 2017, XLIV + 531 S., ISBN 978-3-11-047002-4, EUR 129,95
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Frank Grunert / Matthias Hambrock / Martin Kühnel (Hgg.): Christian Thomasius: Briefwechsel. Historisch-kritische Edition, Bd. 2: 1693-1698, Berlin: de Gruyter 2020, XXXV + 707 S., ISBN 978-3-11-047015-4, EUR 129,95
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Rezension von:
Herbert Jaumann
Neunburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Jaumann: Christian Thomasius, Briefwechsel, 1679-1698 (Rezension), in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 1 [15.01.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/01/34311.html


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Christian Thomasius, Briefwechsel, 1679-1698

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"Die Wirkung von Thomasius auf seine Zeit ist kaum zu überschätzen" (Bd. 1, IX), liest man, ebenso zutreffend wie unbestimmt, in der Einleitung der Herausgeber zum vorliegenden Band 1 des Briefwechsels. Denn Thomasius selbst, zumal der in zahlreiche "Händel" verstrickte Autor der Monatsgespräche (1688-90) [1], artikulierte eine frühe Aufklärung in deutscher Sprache jederzeit mit konkret und präzise gezielter Kritik und provozierte alte und neue Autoritäten mit so atemberaubender Kühnheit, und dabei mit einer so wenig 'juristischen', vielmehr so persönlich zurechenbaren und deshalb unverwechselbaren Streitlust - mit der Betonung auf 'Streit' ebenso wie auf 'Lust' -, wie man das allenfalls wieder bei Heinrich Heine anderthalb Jahrhunderte später lesen konnte. Und es ist daher kein Wunder, wenn gerade dieser Leipziger Thomasius inzwischen etwas ferngerückt und der Hallenser Professor der 1690er Jahre, der sich zeitweilig dem Pietismus zugewandt hatte, dem trostlosen Moralismus von heute näherzustehen scheint ... Aber wie dem auch sei, der 2015 verstorbene Leipziger Historiker Detlef Döring nannte es zu Recht einen "ganz unbefriedigende[n] Zustand" [2], dass bedeutende Briefwechsel jener Jahrzehnte in Deutschland noch immer nicht angemessen ediert seien: "Weder Joachim Jungius noch Erhard Weigel oder Hermann Conring und Christian Thomasius, weder Wolfgang Ratke oder Ehrenfried Walter v. Tschirnhaus noch Otto Mencke und Christian Wolff ist diese Ehre bisher widerfahren, um nur einige Namen zu nennen". [3] Nach der von Döring selbst mustergültig erarbeiteten Ausgabe des Pufendorf-Briefwechsels und den Bänden der gewaltigen Korrespondenz Gottscheds [4], die Döring noch bis 2015 mit herausgeben konnte, hat man sich nun seit 2010, d.h. seit Bewilligung der Mittel durch die DFG, am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung (IZEA) der Universität Halle-Wittenberg einer historisch-kritischen Edition des Briefwechsels von Christian Thomasius zugewandt.

Frank Grunert berichtet von einer wenig günstigen Überlieferungssituation, mit der die drei Herausgeber bei ihrem erstmaligen Versuch der Erschließung der Gesamtkorrespondenz konfrontiert waren. [5] Insgesamt wurden über 1200 Schreiben von zusammen etwa 300 Korrespondenten ermittelt. "Zweifellos der größte Teil" der Korrespondenz ist nicht auffindbar oder verloren, und trotz denkbarer Überraschungen sei "mit größeren Funden nicht zu rechnen" (Bd. 1, XVII). Etwas größere Sequenzen mit nur einem Briefpartner sind in diesem Corpus die Ausnahme, hier allenfalls mit Samuel Pufendorf in Berlin, mit den Theologen Adam Rechenberg (für kurze Zeit [1683/84] Thomasius' Schwager) und Johann Fabricius (Altdorf, dann Helmstedt) oder dem Verleger Moritz Georg Weidmann in Leipzig, dazu kommen einige amtliche und fürstliche Adressaten in Dresden, Leipzig, Berlin. Die Adressaten sind geografisch weit verstreut, aber doch beschränkt auf das mittlere (Jena, Helmstedt, Leipzig, Dresden) und nördliche Deutschland (Berlin, Frankfurt/Oder) sowie angrenzende Länder und Universitäten, besonders die Niederlande (mit dorthin emigrierten Dissidenten wie Poiret, Bayle oder Breckling), im Süden auf Altdorf, Nürnberg und Regensburg. Und ähnlich nun auch die Fundorte, das Verzeichnis der Archive und Bibliotheken umfasst 28 in Band 1, 8 in Band 2, noch vor den Staats- und Universitätsarchiven in Leipzig, Dresden, Berlin und Halle gehören die Königliche Bibliothek Kopenhagen (Sammlung Thott) und die Uffenbach-Wolfsche Briefsammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg zu den reichhaltigsten. Zum weit überwiegenden Teil sind die Briefe in deutscher Sprache verfasst, Französisch wurde im Austausch mit Adligen oder etwa (reformierten) Religionsflüchtlingen verwendet, standestypisches Gelehrtenlatein begegnet relativ selten. Thomasius wollte das Latein unter Gelehrten jedoch nicht abschaffen, wie man früher oft lesen konnte, sondern bevorzugte eine differenzierte bilinguale Kommunikation, weshalb er auch von fast allen eigenen lateinischen Werken deutsche Versionen publizieren ließ, die die lateinischen aber nicht ersetzen sollten. Die Publikation des überlieferten Gesamtbestands des von 1679 bis in Thomasius' Todesjahr 1728 reichenden Briefwechsels soll in 4 Bänden erfolgen. Neben den vorliegenden Bänden 1 und 2 stehen noch aus: Band 3 über die Jahre 1699-1711 und Band 4 über 1712-1728.

Band 1 umfasst einen Zeitraum von 13 Jahren, seit dem Abschluss des Jurastudiums in Frankfurt/Oder, der Heirat (1680) und den Versuchen, in Leipzig beruflich Fuß zu fassen. Dann die Zeit der "Monatsgespräche" und der anderen schweren Konflikte mit den Autoritäten in Universität, Kirche und Staat, die im März 1690 zu einem vollständigen Lehr- und Publikationsverbot und der Flucht und Übersiedlung ins brandenburgische Halle führten. Der dort ermöglichte berufliche Neuanfang mit längerfristigen Perspektiven steht dann im Zentrum des besonders reichhaltigen 2. Bandes. Dessen thematische Schwerpunkte werden einleitend mit den Stichworten "Karriere", "Theologie", "Religiöse Kontakte", "Staatskirchenrecht" und "Netzwerke" indiziert. In diese 90er Jahre fallen die Gründung der Halleschen Universität und Thomasius' erste Professur, die großen Streitschriften (u.a. für individuelle Religionsfreiheit, für den nicht-justiziablen Tatbestand der Häresie), weitere rechtstheoretische Werke sowie eine persönliche Glaubenskrise und ein enger Anschluss an den Pietismus, der mit dem Stichwort "religiöse Kontakte" sicher verharmlost wird. Andererseits wurde diese auch bald wieder zu Ende gehende Phase oft auch überbewertet, so als sei aus dem satirischen Kritiker nun in Halle ein Pietist geworden.

Die Überlieferungsdichte des gesamten Briefwechsels ist in den späten 1680er und während der 1690er Jahre am größten, erneut gut dokumentiert sind die Jahre zwischen 1706 und 1710 und nach 1720, und größere Lücken bestehen zwischen 1710 und 1720. Den Briefen und ggf. Gegenbriefen steht in jedem der 4 Bände eine Einleitung, ein Abkürzungs- und ein Archiv- und Bibliothekenverzeichnis sowie ein Chronologisches Verzeichnis der Briefe voran; sodann folgt jedem Brief ein ausführlicher Kommentar, und der Anhang bietet weitere Verzeichnisse: eine Liste der in der Korrespondenz erwähnten Schriften (anonyme Verfasser und Pseudonyme wurden z. T. identifiziert) sowie Personen- und Ortsregister. Hinzu kommt eine in vergleichbaren Ausgaben seltene Leistung, die dieser Edition ohne Zweifel eine besondere Qualität verleiht: Die Wiedergabe der erhaltenen Briefe und Gegenbriefe wird nämlich ggf. durch Angaben über "physisch nicht vorhandene", aber durch zuverlässige Angaben "in der Korrespondenz selbst, in anderen Briefwechseln oder in gedruckten Quellen" bezeugte Schreiben ergänzt (1, XVII). Die Informationen über diese erschlossenen Schreiben sind in der Art von Regesten gehalten, sie sind aber mit oft erheblich ausführlicheren Inhaltsangaben versehen, als in diesem Genre der historischen Diplomatik üblich, und sind ebenfalls kommentiert. Doch das ist nicht alles - diese Ausgabe hat noch weitere Leistungen zu bieten: Ein 5. Band (Supplement) wird als Kernstück ein umfangreiches Personenlexikon enthalten, das sowohl alle Korrespondenten als auch alle im Briefwechsel direkt wie auch indirekt (etwa durch Anspielung oder als Autoren erwähnter oder zitierter Schriften) genannte Personen erfasst. Daneben enthält der Supplementband das Gesamtverzeichnis der erwähnten Schriften, ein ausführliches Literaturverzeichnis (Quellen und Forschung) sowie die vollständigen Fassungen der Verzeichnisse und Register aus den Einzelbänden. Jeweils 2 Jahre nach Erscheinen der einzelnen Briefbände werden diese Verzeichnisse auf dem jeweils erreichten Stand über die Website des IZEA zugänglich gemacht: www.thomasius-forschung.izea.uni-halle.de. Das heißt, die u.a. das Personenlexikon, das Verzeichnis der erwähnten Schriften und das Literaturverzeichnis betreffenden Listen für den 2017 gedruckten Band 1 sind dort seit 2019 zugänglich, diejenigen für Band 2 ab 2022 usw. Nach Abschluss der vierbändigen Edition soll auch dieser 5. Band im Druck erscheinen. Dass man auch in den vorläufigen Verzeichnissen also bis zur Bescherung ganz am Schluss nicht rasch nachschlagen kann und so auch für einfache Informationen das Internet bemühen muss, erschwert die Benutzung dieser Ausgabe in den kommenden Jahren durchaus - auch ein Fall der demütigen Hinnahme jener im vollen Zuge befindlichen Zwangsdigitalisierung, über den man offenbar als 'alternativlos' hinwegsieht. Aber darüber wundern wird man sich doch noch dürfen, als außenstehender, gewöhnlicher Benutzer ...


Anmerkungen:

[1] Vgl. Christian Thomasius: Monatsgespräche. Nachdruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig. Halle 1688-1690 (= Christian Thomasius: Ausgewählte Werke; Bde. 5.1-2; 6.1-2 u. 7.1-2), hg. von Herbert Jaumann, 3 Bde., Hildesheim 2015, mit einem Vorwort des Herausgebers in Bd. 5.1, V-LV; dazu, insbesondere mit Versuchen einer genaueren Bestimmung des 'Aufklärers' Thomasius: Herbert Jaumann: Christian Thomasius, in: Killy Literaturlexikon 11 (2011), 494-504, und Ders.: Christian Thomasius (1655-1728), in: Theologische Realenzyklopädie (TRE) XXXIII (2001), 483-487.

[2] Detlef Döring: Die Res publica litteraria im mitteldeutschen Raum um 1700 im Spiegel ihrer Korrespondenz, in: Strukturen der deutschen Frühaufklärung 1680-1720, hg. von Hans-Erich Bödeker, Göttingen 2008, 71-98, hier: 72; zuerst als Beitrag in: Erich Donnert (Hg.): Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 5, Köln [u.a.] 1999, 221-240.

[3] So Döring in der Einleitung zu seiner Edition des Briefwechsels von Samuel Pufendorf (= Samuel Pufendorf: Gesammelte Werke, hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 1), Berlin 1996, X.

[4] Mit dem Pufendorf-Briefwechsel und danach mit der von ihm begründeten historisch-kritischen Ausgabe der gesamten Korrespondenz Johann Christoph Gottscheds, mit Einschluss von Luise Adelgunde Victoria Gottsched, hat Döring selbst noch maßgeblich zur Verbesserung dieses Zustandes beigetragen; die Gottsched-Edition (im Verlag de Gruyter, 2007 ff.) soll 25 Bände umfassen, von denen bis heute 14 erschienen sind. - An neueren Briefeditionen der anderen von Döring genannten Gelehrten liegen inzwischen vor: der Briefwechsel von Joachim Jungius, Göttingen 2005; die historisch-kritische Edition des Briefwechsels von Christian Wolff mit Ernst Christoph v. Manteuffel 1738-1748 durch die IZEA in 3 Bänden, Hildesheim 2019; von E. Walter v. Tschirnhaus ein geplanter Briefband im Rahmen der Gesamtausgabe (seit 2000), Reihe 3, im Verlag d. Sächsischen Akademie d. Wissenschaften (in Kommission bei Franz Steiner, Stuttgart).

[5] Vgl. Frank Grunerts gegenüber den Einleitungen der erschienenen Bände ausführlicheren Bericht: "Meines hochgeehrten herrn dienstwilligster Diener". Der Briefwechsel von Christian Thomasius - erste Ergebnisse eines Editionsprojekts, in: Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung (= Kleine Schriften des IZEA; Bd. 4), hg. von Erdmut Jost / Daniel Fulda, Halle 2012, 35-56.

Herbert Jaumann