Konrad Hirschler: A Monument to Medieval Syrian Book Culture. The Library of Ibn ʿAbd al-Hādī (= Edinburgh Studies in Classical Islamic History and Culture), Edinburgh: Edinburgh University Press 2020, X + 612 S., ISBN 978-1-4744-5156-7, GBP 85,00
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Ein Mann sitzt Zeit seines Lebens in einem Haus am Hang des Qasiyun in Damaskus und schreibt. Neben seinen eigenen Gedanken zu allerhand Themen der islamischen Gelehrsamkeit, die er in hunderten meist nur kleiner Heftchen festhält, sammelt er Bücher: seine eigenen Schriften, selbstangefertigte Abschriften von gelehrter Literatur seiner Zeit und Kopien, die ihm Kollegen, Freunde, Lehrer übergeben oder die er dank seiner komfortablen finanziellen Situation ankaufen kann. Über die Jahre entsteht eine beachtliche Sammlung von Ausgaben, die in Ibn ʿAbd al-Hādīs [1] Haus zu finden sind - und damit er jedes einzelne wiederfinden kann, führt der Gelehrte penibel Buch über seine Bücher.
Ibn ʿAbd al-Hādī und seine Schriften sind in seiner Zeit wohl keine Berühmtheiten; der Schatz, den er hütet, ist vor allem sein Schatz. Wir wissen nicht, wie viele ähnliche Buchnarren in Damaskus und in anderen Städten der islamischen Welt im 15. Jahrhundert zu finden waren, denn über die 'Alltagskultur der Gelehrten' ist teils beklagenswert wenig bekannt - selbst über die größten Namen, an deren Schriften die islamwissenschaftliche Forschung sich seit jeher abarbeitet. Erst recht gilt dies für die Masse der Gelehrten, die den 'Wissenschaftsbetrieb' einer Metropole wie Damaskus am Leben hielt, und mehr noch für die Arbeits- und Archivierungspraktiken, die diese Leute anwendeten. Aus diesen Gründen allein ist die vorliegende Analyse eines so raren Dokuments wie dem Bibliothekskatalog von Ibn ʿAbd al-Hādī hochwillkommen. Konrad Hirschler hat sich mit seinem vierten Buch der Aufgabe verschrieben, nicht nur den Entstehungskontext dieses Katalogs zu erforschen, sondern auch die mit einer Gelehrtenbibliothek im Damaskus des 15. Jahrhunderts verbundenen Praktiken zu erleuchten, die von der Buchführung bis zur Buchbindung reichen. Zudem liefert er eine Edition des arabischen Textes nebst einer mit zahlreichen Kommentaren und Zusatzinformationen angereicherten englischen Übersetzung. Die Studie umfasst vier Analyse-Kapitel, die sich jeweils mit einem Aspekt der Bibliothek des Ibn ʿAbd al-Hādī befassen.
Das erste Kapitel beleuchtet den historischen Kontext der Entstehung dieser Sammlung und die Biographie des Sammlers selbst. Hirschler bezeichnet Ibn ʿAbd al-Hādī als "middling scholar", der, obgleich er ein beachtliches Œuvre hinterließ, niemals in höchste Positionen aufstieg, sondern seinen offenbar nicht unbeachtlichen wirtschaftlichen Wohlstand durch eine Anzahl von Aktivitäten erreichte. Der Erhaltungszustand seiner Schriften, die in der Regel nur als Autographe vorliegen, lässt darauf schließen, dass er keine allzu große Rezeption von seinen Zeitgenossen erfahren hat. Umso erstaunlicher ist die Dichte an biographischer Information, die Hirschler aus Randnotizen des Autors und Sammlers Ibn ʿAbd al-Hādī selbst, sowie unter Zuhilfenahme zahlreicher weiterer Quellen zusammentragen kann. Aus dieser beachtlichen Puzzle-Arbeit entsteht ein Bild, das nicht nur des Autors wohl angenehme materielle Situation, sondern auch die Anzahl, Namen und Schicksale seiner zahlreichen Frauen, Konkubinen und Kinder umfasst. Der Frage, warum Ibn ʿAbd al-Hādīs schätzungsweise über 800 Schriften fast ausnahmslos keine Beachtung fanden, geht Hirschler aus verschiedenen Perspektiven nach. Er argumentiert schließlich insbesondere mit der sich verändernden Wissenschaftstradition im Damaskus der Zeit; seine Argumentation in diese Richtung geht im ersten Kapitel nahtlos in ein Tableau der intellektuellen Anbindungen Ibn ʿAbd al-Hādīs über. Das zweite Kapitel widmet Hirschler darauf aufbauend der Ausführung seines Hauptarguments. Ausgehend von dem thematischen Schwerpunkt der Sammlung, der in post-kanonischer ḥadīth-Tradition zu sehen ist, sowie der Katalogisierungspraxis Ibn ʿAbd al-Hādīs stellt Hirschler die These auf, der Sammler habe mit seiner Stiftungsbibliothek, die später in den Bestand der ʿUmarīya Madrasa und noch später teilweise in die Bestände der heute als National al-Asad Library bekannten Sammlung überging, ein Monumentalisierungs-Projekt verfolgt. Mit dieser Lesart weist Hirschler nach, dass nicht nur einzelne Texte stets im Kontext der Intentionen ihrer Autoren gelesen und als Quellen genutzt werden müssen. Auch Sammlungen, wie der zunächst private Bibliotheksbestand Ibn ʿAbd al-Hādīs sind bewusst geformte, nach dem Willen und Interesse ihrer Besitzer oder Verwalter entstandene Korpora. Wenn solche Bestände, deren Herkunft und Entstehungskontext in aller Regel nicht mehr so detailliert nachverfolgbar sind wie im hier untersuchten Fall, im weiteren Verlauf konstituierende Teile großer Sammlungen, wie etwa der National Asad Library werden, prägen die (im Zweifel unbekannten) Intentionen und Interessen der ursprünglichen Sammler auch unsere heutige Wahrnehmung 'mittelalterlicher' syrischer Buchkultur. Ibn ʿAbd al-Hādīs Beispiel zeigt, dass das Sammeln von Büchern eine Strategie darstellen kann: Eine Strategie zur Konservierung, zur Monumentalisierung intellektueller Kulturen - im vorliegenden Fall auch eine Strategie wider das Vergessen einer Tradition, die im Damaskus des Buchsammlers langsam aus der Mode geriet. Darüber hinaus zeigt sich Ibn ʿAbd al-Hādīs Katalog aber auch eingebunden in eine Vielzahl sozialer, wissenschaftlicher und handwerklicher Praktiken. Hirschler stellt das soziale und kulturelle Kapital der untersuchten Bibliothek in verschiedener Hinsicht dar, wobei er die rechtliche Form der Stiftung ebenso betrachtet wie das räumliche Setting der Bibliothek, die Organisation und Ordnung im Katalog und die soziale Einbindung von Ibn ʿAbd al-Hādīs Projekt, zum Beispiel durch öffentliche 'binge-reading sessions'. Auch das dritte Kapitel befasst sich, nun aus kodikologischer Sicht, mit den Praktiken des Sammlers und Autors Ibn ʿAbd al-Hādī, der auch auf der Mikro-Ebene des einzelnen Manuskripts die Intentionen seines Projekts in dessen Materialität einschreibt: Hirschler zeigt, wie durch die Zusammenstellung von Sammelhandschriften die thematische Ausrichtung der Bibliothek unterstrichen und manifestiert wurde, und wie andererseits die Einbindung persönlicher Notizen und Schriften den Sammler Ibn ʿAbd al-Hādī zu einem organischen Bestandteil auch der materiellen Seite seiner Sammlung macht. Im vierten Kapitel schließlich wendet sich die Studie dem Nachleben der Sammlung zu, und damit wiederum der Frage, warum ausgerechnet diese eine Buchsammlung in Damaskus über lange Zeit als Korpus erhalten bleiben konnte.
Der zweite, umfangreichere Teil der Publikation umfasst eine arabische Edition des Bibliothekskatalogs von Ibn ʿAbd al-Hādī, eine mit zahlreichen weiterführenden Informationen angereicherte Übersetzung des Textes. Hirschler schließt dankenswerterweise Querverweise auf weitere Kataloge, wie etwa das nur schlecht einsehbare Sublime Register der Public Library aus osmanischer Zeit (1882) ein. Hochinteressant sind zudem die zahlreichen farbigen Abbildungen aus der Handschrift, die nicht nur die Materialität der Quelle nachvollziehbar machen, sondern sich zusammen mit der Edition und Übersetzung auch als Anschauungs- und Übungsmaterial für Handschriftenerschließung und -lektüre eignen. Großer Dank ist an Autor und Verlag dafür auszusprechen, dass diese nützlichen Informationen in digitaler Form in Open Access zur Verfügung gestellt und somit umfassend und leicht nutzbar gemacht wurden - gerade in Zeiten pandemiebedingt geschlossener Bibliotheken.
Hirschler stellt den LeserInnen Ibn ʿAbd al-Hādīs 'museum of texts' überzeugend als ein individuell vom Sammler und Autor geformtes Projekt vor. Der Sammler Ibn ʿAbd al-Hādī erinnert in dieser Hinsicht an Pamuks Romanfigur Kemal, die ein 'Museum der Unschuld' errichtet. Aus wissenschaftlicher Perspektive gelesen, rüttelt die Studie damit an den immer noch viel zu sorglosen Praktiken der Quellenrezeption in der Beschäftigung mit 'mittelalterlicher' [2] islamischer Geschichte und an der Konzentration auf bestimmte Quellensorten (Texte, Architektur). Hirschler bindet die Geschichte des Bibliothekskatalogs auf faszinierende Weise in einen breiten historischen Kontext ein, an keiner Stelle verlässt die Studie dabei den sicheren Grund der mit einer Vielzahl von Ansätzen sauber recherchierten Wissenschaft. So gelingt es, ausgehend von einem unscheinbar erscheinenden Schriftstück ein umfassendes Bild zu zeichnen, das weit über den Umfang und Anspruch einer 'case study' hinausreicht und in die sich der Entstehungskontext und Ibn ʿAbd al-Hādīs persönliche Lebensumstände ebenso organisch einfügen, wie die moderne Rezeption seiner Sammlung. "A Monument to Medieval Syrian Book Culture" kann man deshalb auch LeserInnen mit unterschiedlichsten Interessen wärmstens empfehlen: Es kann als Kulturgeschichte syrischer Buch- und Bibliothekskultur dienen oder als Beispiel für eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit gelehrter Alltagskultur. Dank der benutzerfreundlichen Publikationsform ist die annotierte Edition eine willkommene Ressource für weitere Forschung und schließlich kann man das Buch dank der schönen sprachlichen Form auch schlicht zum Vergnügen lesen.
Anmerkungen:
[1] Der Autor wird in der Forschung auch als Ibn al-Mibrad geführt.
[2] Die Rezensentin verzichtet hier bewusst auf eine Problematisierung der Bezeichnung 'medieval' in Bezug auf islamische Geschichte und Kultur.
Anna Kollatz