Rezension über:

Lewis Ayres / H. Clifton Ward (eds.): The Rise of the Early Christian Intellectual (= Arbeiten zur Kirchengeschichte; Bd. 139), Berlin: de Gruyter 2020, 285 S., ISBN 978-3-11-060755-0, EUR 86,95
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Rezension von:
Peter Gemeinhardt
Georg-August-Universität Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Peter Gemeinhardt: Rezension von: Lewis Ayres / H. Clifton Ward (eds.): The Rise of the Early Christian Intellectual, Berlin: de Gruyter 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/34763.html


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Lewis Ayres / H. Clifton Ward (eds.): The Rise of the Early Christian Intellectual

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Das Christentum des 2. Jahrhunderts war auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. Wer sich einer christlichen Gruppe zuordnete, lebte in sozialen, politischen oder kulturellen Zusammenhängen, die mit dem Glauben oft nicht einfach zu vereinbaren waren. Diese Grundproblematik thematisiert der vorliegende Sammelband am Beispiel des "christlichen Intellektuellen", an Menschen (hier ausschließlich Männern) "whose educational attainments enable them to rise above or beyond opinions transmitted by tradition, to think in 'new' and 'creative' ways". Diese moderne Auffassung, die die Herausgeber in der Einleitung skizzieren (1), ist anfällig für Anachronismen (so problematisiert Christoph Markschies im Geleitwort entsprechende Rekurse auf Max Weber, VII-XII). Der Band fragt daher nach der genauen Einbettung christlicher intellektueller Betätigung in die geistige Welt der frühen Kaiserzeit, greift aber weiter aus: "how far was the production of new ideas and the breaking free from tradition seen or ot seen as distinctive of the intellectual in the ancient world?" (2).

Die neun Beiträge sind sehr unterschiedlichen "Intellektuellen" gewidmet. Tobias Nicklas präsentiert als einen solchen den Autor der Johannesapokalypse ("Crazy Guy or Intellectual Leader?", 7-24), dessen Methode der Selbstautorisierung Vertrautheit mit den literarischen Diskursen seiner Zeit verrate, auch wenn er diese nicht ausdrücklich adressiere. Stephen C. Carlson untersucht "Papias's Appeal to the 'Living and Lasting Voice' over Books" (25-44) und zeigt, dass in pagan-philosophischen, frühjüdischen und frühchristlichen Quellen die Hochschätzung mündlicher gegenüber schriftlicher Überlieferung üblich und bei Papias nicht das "Mündliche", sondern das "Bleibende" ungewöhnlich sei, das sich auf die Überlieferung der Botschaft Jesu über mehrere Generationen hinweg beziehe (43). Matthew R. Crawford widmet sich "Tatian, Celsus and Christianity as 'Barbarian Philosophy' in the Late Second Century" (45-80): Das Interesse an Wissen und Bildung aus Kulturkreisen jenseits der griechisch-römischen Welt war verbreitet, während Tatians Bruch mit der (ihm vertrauten) griechischen Philosophie und seine Selbstidentifikation als "Barbar" aus dem Rahmen fielen (74), was nur biographisch plausibilisiert werden konnte (80). Matyáš Havrda analysiert "Intellectual independence in Christian and medical discourse" (81-100) und erläutert, dass solche Unabhängigkeit das Ziel von Lernprozessen war, wie sie bei Galen, den Valentinianern und Clemens von Alexandrien bezeugt sind. Dem Letztgenannten widmet sich auch Benjamin A. Edsall ("Clement and the Catechumenate in the Late Second Century", 101-127), wobei er mögliche sozial- und geistesgeschichtliche Vorbilder des Katechumenats sichtet und dann (wie auch Havrda) zeigt, dass Clemens Glaube einerseits als religiöses Ziel, andererseits als Weg zu tieferem Wissen beschrieb (121). Auch Gretchen Reydams-Schils nimmt Clemens in den Blick, bezüglich des sowohl von Platonikern als auch von Stoikern verfolgten Ziel der "Gottwerdung" (129-143): Nicht nur Platons "Verähnlichung mit Gott", sondern auch das stoische Ideal eines "Lebens gemäß der Natur" forme Clemens zu einer philosophischen Idee der Gottebenbildlichkeit. Lewis Ayres behandelt "Irenaeus and the 'Rule of Truth'" (145-163): Dieser Begriff werde im Sinne der Arbeit des Grammatikers gebraucht, um die Heilige Schrift kompetent lesen zu können (159); die Glaubensregel sei mehr als ein Summarium des Glaubens, "a supple and complex language for identifying the standard for thought that the Church's inherited faith provided" (163). Azzan Yadin-Israel geht der Frage nach "Christian, Jewish, and Pagan Authority" nach (165-191), allerdings im Blick auf "nicht-intellektuelle" Formen von Autorität (Prophetie und Offenbarung einerseits, Mündlichkeit und Tradition andererseits), und zeigt, wie solche Autorität in allen drei Religionskulturen einen Niedergang erlebte, was allerdings nicht einfach durch Prozesse der Institutionalisierung erklärt werden könne (191 - aber wie dann?). In einem Text, der den zeitlichen Rahmen des Bandes sprengt, fokussiert Francesca Schironi "Eusebius' Gospel Questions and Aristarchus on Homer" (193-226) unter der Hinsicht, welche Strategien beide Autoren anwendeten, um mit Problemen des Textkonstitution und der Interpretation "sakraler" Schriften fertig zu werden, wobei sich der christliche Theologe als versierter, aber auch eigenständiger Erbe alexandrinischer Tradition erweise (224). Eine Bibliographie, ein Stellenregister und ein "General Index" runden den Band ab.

Die Aufsätze sind jeder für sich interessant und lehrreich, wobei mir insbesondere die Texte von Nicklas, Crawford, Ayres und Yadin-Israel als originell und innovativ erscheinen. Was ergibt sich aber beitragsübergreifend für "the rise of the early Christian intellectual"? Die Herausgeber summieren: Christliche Autoren seien gebildet gewesen, das Christentum habe sich nicht klassischer Bildung 'bedient', sondern sei damit quasi 'aufgezogen' worden. Die thematisierten Autoren seien "both clearly 'intellectuals' by ancient standards, and yet also adapting models of intellectual activity to Christian purposes and ends" (4). Dem wird man nicht widersprechen wollen, und doch liegt hier die Crux: Präsentiert werden unterschiedliche christliche "Intellektuelle", überwiegend aber ohne den Bezug auf ein Konzept oder auch nur den Begriff. Es bleibt offen, wie der Bezug auf "the intellectual" die Befunde zu strukturieren vermag: Was verbindet den Seher der Apokalypse mit Tatian, was den Antihäretiker Irenaeus mit dem Katecheten Clemens? Beschränkt sich der Begriff auf ein bestimmtes literarisches Kompetenzprofil, oder wäre die moderne Konnotation des "öffentlichen Intellektuellen" eine hilfreiche Fokussierung? Müsste man nicht auch Autoren wie Justin, Tertullian oder Origenes einbeziehen? [1] Und wie verhalten sich "Intellektuelle" zu Lehrern als prägenden Figuren frühchristlicher Gemeinden? [2] Die Herausgeber behaupten nicht, das Thema erschöpfend behandelt zu haben. Aber ein klareres Profil des frühchristlichen Intellektuellen, gerade in Bezug auf die oben aufgeworfene Frage nach Kreativität und Freiheit gegenüber Traditionen, ließe sich möglicherweise doch zeichnen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Hartmut Leppin: Intellektuelle Autorität unter frühen Christen, in: Peter Gemeinhardt (Hg.): Was ist Bildung in der Vormoderne?, Tübingen 2019, 305-329.

[2] Vgl. H. Gregory Snyder (ed.): Christian Teachers in Second-Century Rome: Schools and Students in the Ancient City, Leiden / Boston 2020.

Peter Gemeinhardt