Jörg Hofmann / Christiane Benner (Hgg.): Geschichte der IG Metall. Zur Entwicklung von Autonomie und Gestaltungskraft, Frankfurt am Main: Bund-Verlag 2020, 646 S., ISBN 978-3-7663-6925-3, EUR 48,00
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Kurz vor dem 24. Ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall im Oktober 2019 in Nürnberg erschien ein Buch über die Geschichte der Organisation, das gemäß Jörg Hofmann und seiner Mitherausgeberin Christiane Benner notwendig ist, "um erfolgreiche und auch weniger erfolgreiche Geschehnisse, Entscheidungen, Aktivitäten im kollektiven Gedächtnis unserer Gewerkschaft zu bewahren". (5) Insofern dient die Publikation der historisch-politischen Selbstvergewisserung - und ist zugleich doch mehr. Die über 20 Beiträge decken ein breites Spektrum an Themen ab. Verfasst haben sie mehrheitlich gewerkschaftsnahe Akademikerinnen und Akademiker und frühere oder derzeitige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der IG Metall und mit ihr fusionierter Gewerkschaften.
Die Idee zu dem Sammelband stand im Kontext der Trainee-Ausbildung. Seit Frühjahr 2018 stellt ein einwöchiges Seminar zur Geschichte der Organisation einen festen Bestandteil des Curriculums dar. Folgerichtig behandelt der erste Teil in vier Beiträgen die Geschichte der Metallgewerkschaft von der Gründung des Deutschen Metallarbeiter-Verbands (DMV) 1891 über die Erfolge wie Rückschläge in der Weimarer Republik, die Zerschlagung 1933 durch das NS-Regime bis zur Wiedergründung nach der Befreiung sowie die Entwicklung in der Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung.
Nach einem Aufsatz von Michael Kittner über die organisationspolitischen Voraussetzungen thematisiert der umfangreichste Abschnitt die unterschiedlichen Handlungsfelder. Die IG Metall und ihre Vorgängerorganisationen sahen ihre Aufgaben darin, die Arbeitswelt und die sie umgebende Gesamtgesellschaft sozial und politisch zu gestalten. Neben den Kernelementen Tarifpolitik, Arbeitszeit und Sozialpolitik bieten Stefan Müller und Lothar Wentzel einen Überblick über die Bildungsarbeit der Gewerkschaft. Diese habe viel zur Handlungsfähigkeit beigetragen und stelle bis heute "ein gutes Rüstzeug für die kommenden Auseinandersetzungen dar". (463)
Dass der Sammelband keineswegs hagiografisch angelegt ist, zeigen die Beiträge über die Migrationsarbeit und die Frauen in der IG Metall. Nihat Öztürk und Oliver Trede diskutieren die ambivalenten Positionen der IG Metall zur Beschäftigung sogenannter Gastarbeiterinnen bzw. Gastarbeiter. Obwohl sie auch - im Konzert mit den anderen DGB-Gewerkschaften - lange Zeit das "Inländerprimat" propagierte, richtete die IG Metall bereits 1962 in der Organisationsabteilung des Vorstands eine Stelle ein, um ausländische Lohnabhängige zu betreuen. Trotz aller Versäumnisse erkannte sie Arbeitsmigrantinnen und -migranten zusehends als gleichberechtigte Mitglieder der Belegschaften an. Die anfänglich paternalistische Betreuung wandelte sich zur gleichberechtigten Teilhabe. Heutzutage sind Mitglieder mit Migrationshintergrund in den Mitbestimmungs- und Gewerkschaftsgremien adäquat vertreten oder gar überrepräsentiert. Dennoch finden sich rassistische und rechtsextreme Einstellungen auch unter den Mitgliedern der IG Metall und anderer DGB-Gewerkschaften, teils sogar zu einem höheren Prozentsatz als im Durchschnitt der Bevölkerung, wie die Autoren abschließend festhalten.
In ihrem Beitrag zur Geschlechterpolitik beschreibt Ingrid Kurz-Scherf den grundlegenden Widerspruch zwischen einer internen Gewerkschaftsperspektive, in der die Frauen eine deutliche Minderheit sind, und einer gesellschaftspolitischen Sichtweise. Darin seien die Frauen nicht nur die Mehrheit, sondern die sogenannte Frauenfrage sei zugleich eine Konsequenz aus der patriarchalischen Struktur moderner Gesellschaften. Bei allen Rückschlägen und heftigen Auseinandersetzungen habe sich die IG Metall deutlich gewandelt und einen Lernprozess durchlaufen. Anerkennend schreibt Kurz-Scherf: "Die Öffnung der Gewerkschaften für die neuen Problematiken von Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Kolonialismus oder für Prozesse der zunehmenden Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen innerhalb und außerhalb des gewerkschaftlichen Stammklientels hat die Qualität eines Perspektiv- und Paradigmenwechsels gewerkschaftlicher Politik, an dem die gewerkschaftliche Frauenarbeit maßgeblich beteiligt war." (504)
Die organisationspolitischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte werden im folgenden Abschnitt am Beispiel der Zusammenführung der IG Metall Ost und West sowie anhand der Integration der Gewerkschaft Textil-Bekleidung und der Gewerkschaft Holz und Kunststoff thematisiert. Biografische Abhandlungen über die drei Gewerkschaftsvorsitzenden Alexander Schlicke, Robert Dißmann und Otto Brenner runden den Sammelband ab.
Am Beispiel Dißmann stellt Reiner Tosstorff nicht nur die Auseinandersetzungen im DMV im und nach dem Ersten Weltkrieg heraus. Diese Debatten können vielmehr als ein Brennglas für Konflikte in der gesamten Arbeiterbewegung gelten, etwa hinsichtlich der Burgfriedenspolitik und der daraus resultierenden Spaltung der Sozialdemokratie und schließlich der Gründung der Kommunistischen Partei. Gleiches gilt für Otto Brenner und die Geschichte der Bundesrepublik. Wie Jens Becker hervorhebt, kann der Lebenslauf des IG Metall Vorsitzenden nicht nur die Geschichte der eigenen Organisation und der DGB-Gewerkschaften, sondern auch die Geschichte der gesamten parteipolitischen wie außerparlamentarischen Linken besser verständlich machen.
In einem Ausblick resümieren Hofmann und Benner die aktuelle Situation und die anstehenden Aufgaben für die IG Metall vor dem Hintergrund ihrer Geschichte. Sie dürfe sich nicht auf ihren durchaus beachtlichen Erfolgen ausruhen, sondern müsse sich den kommenden Herausforderungen stellen. Die Rolle der Gewerkschaften müsse angesichts der sozio-ökonomischen Veränderungen neu bestimmt werden. Ausgangspunkt dafür sei der Betrieb. Dort könne Solidarität zwischen den Beschäftigten erwachsen, die eine zentrale Prämisse für das gemeinsame Handeln sei: "Im Betrieb als politischer Handlungsort wird sich entscheiden, ob die Gewerkschaften ihre emanzipatorische Rolle weiter ausfüllen können oder ob sie zu einem Interessenverband unter vielen werden, der nicht mehr in der Lage ist, in der Auseinandersetzung um die Primärverteilung zwischen Kapital und Arbeit dem Kapitalismus gute Arbeit für alle abzuringen." (627)
Der Sammelband bietet einen profunden und facettenreichen Überblick über die Geschichte der IG Metall. Aktuelle Problemkonstellationen ergänzen die grundlegenden historischen Entwicklungen. Ein Manko sind vermeidbare Redundanzen, die aus thematischen Überschneidungen resultieren. So stellt der lesenswerte Beitrag von Michael Kittner mit über 120 Seiten gewissermaßen ein Buch im Buch dar. Ihm ist sogar ein eigenes Inhaltsverzeichnis vorangestellt. Da andere Aufsätze viele Aspekte abdecken, hätte Kittners Beitrag auch als eigenständige Publikation erscheinen können.
Dennoch ist die Lektüre des Sammelbands äußerst empfehlenswert. Es bleibt zu hoffen, dass er nicht nur innerhalb der IG Metall und anderer Gewerkschaften rezipiert wird, sondern seinen Weg ins akademische Spektrum findet. Nicht zuletzt macht er deutlich, welche Bedeutung die (Metall-)Gewerkschaften als soziale Akteure für die deutsche Geschichte seit der Industrialisierung haben. Damit trägt er zur weiteren Aufwertung der Gewerkschaftsgeschichte bei, die sich seit einigen Jahren abzeichnet.
Sebastian Voigt