Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Die vergessene Ausbeutung. Kolonialismus und der Südwesten (= Stuttgarter Symposion; Bd. 19), Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2021, 267 S., ISBN 978-3-95505-263-8, EUR 17,90
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Leslie James / Elisabeth Leake (eds.): Decolonization and the Cold War. Negotiating Independence, London: Bloomsbury 2015
Hannimari Jokinen / Flower Manase / Joachim Zeller (Hgg.): Stand und Fall. Das Wissmann-Denkmal zwischen kolonialer Weihestätte und postkolonialer Dekonstruktion, Berlin: Metropol 2022
Daniel Brückenhaus: Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anti-Colonialists in Europe, 1905-1945, Oxford: Oxford University Press 2017
Jens J. Scheiner: Die Eroberung von Damaskus. Quellenkritische Untersuchung zur Historiographie in klassisch-islamischer Zeit, Leiden / Boston: Brill 2010
Gotthard Strohmaier: Antike Naturwissenschaft in orientalischem Gewand, Trier: WVT 2007
Amina Elbendary: Crowds and Sultans. Urban Protest in Late Medieval Egypt, Kairo: American University in Cairo Press 2015
In regelmäßigen Abständen organisieren das Haus der Geschichte und das Stadtarchiv der Landeshauptstadt Stuttgart ein Symposium, auf dem von Fachleuten verschiedene Aspekte der Geschichte und Kultur des deutschen Südwestens diskutiert werden. Auf einer Ende November 2019 durchgeführten Veranstaltung standen die regionalen kolonialen Verflechtungen von Baden und Württemberg im Vordergrund des Interesses. Es sollte unter anderem, so die Veranstalter, um die Rolle des schwäbischen Pietismus in den kolonialen Gebieten, die Verknüpfung von Kolonialismus und Alltag, die Begeisterung der Massen für die koloniale Sache und die lokale Erinnerungskultur gehen. Die damals gehaltenen Vorträge liegen (bis auf eine Ausnahme) nun als Veröffentlichung vor, ergänzt um einen zusätzlich eingeworbenen Beitrag von Katharina Ernst und Margret Frenz. Andreas Eckert macht den Anfang mit einigen profunden Anmerkungen zum Thema "Kolonialismus". Er ergänzt die bekannte und oft zitierte Definition von Jürgen Osterhammel [1] um zwei wichtige Punkte: zum einen seien die lokalen Kontexte und historischen Hintergründe von Fall zu Fall so unterschiedlich, dass man lieber von Kolonalismen sprechen sollte. Zum anderen entstanden in den Kolonien sehr komplexe Vergesellschaftungs- und Adaptierungsprozesse, in deren Verlauf die Kolonialisierten eigene Formen des Zusammenlebens, neue Identitäten und eine mittelfristig erfolgreiche Widerständigkeit entwickelten. Vor diesem Hintergrund wendet sich Rebekka Habermas in ihrem Beitrag den auf dem Stuttgarter Symposium in den Mittelpunkt gestellten regionalen Verbindungen zum Kolonialismus zu. Die Lebensläufe der Generalin von Habermaas, von Matthias Erzberger (1875-1921), Werner von Rotberg (1870-1906) und Elisabeth Krämer-Bannow (1874-1945) dienen ihr dabei als exemplarische Akteur*innen des Kolonialen. Darüber hinaus weist sie auch auf die große Rolle von Vereinen (wie etwa der Frauenkolonialverein, der Kolonialverein, der Alldeutscher Verband, der Flottenverein, der Württembergische Verein für Handelsgeographie, die Stuttgarter Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft oder - sehr wichtig! - die zahlreichen Missionsvereine), des Stuttgarter Museums für Völkerkunde und des Freiburger Museums für Natur- und Völkerkunde sowie der Universitäten hin. Speziell auf Freiburger Bezüge zum Kolonialismus gehen Bernd-Stefan Grewe und Heiko Wegmannn ein. In Anlehnung an Rainer M. Lepsius identifizieren sie in Freiburg während der Kolonialzeit ein katholisches, ein kleineres (sozialistisches) und ein liberales, protestantisches und bildungsbürgerliches Milieu. Jede Gruppe verfügte über eigene Tageszeitungen, Vereine und Gesellschaften. Man heiratete in der Regel intern und wählte mehrheitlich die gleiche Partei. Trat bei dem liberalen Milieu eine prokoloniale Haltung zutage, so hatte das katholische Milieu eher eine ambivalente Haltung dazu. Ihnen ging es vor allem um die Missionierung der Heiden, wobei auch die allgemeine Opposition der Zentrumspartei zu den Ansichten der SPD und der Liberalen eine Rolle gespielt haben mag.
Innerhalb des Arbeitermilieus wurde zwar Kritik an dem deutschen Kolonialismus geübt, doch war diese offenbar verbunden mit einem latenten Rassismus und einer klaren Zivilisierungsmission. In Freiburg waren, so das Fazit der Autoren, sowohl die Stadtgesellschaft wie auch die Stadt als Körperschaft in vielerlei Hinsicht kolonial geprägt. Innerhalb der Universitäten kann man eine ganze Reihe von Fächern dem Oberbegriff "Kolonialwissenschaften" zuordnen. Bedauerlicherweise gibt es bislang keine umfassende Gesamtdarstellung, so dass man meistens auf Verweise in fachgeschichtlichen Übersichten angewiesen ist. Carsten Gräbel, der ein Buch zum Thema "Die Erforschung der Kolonien. Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884-1919" (Bielefeld 2015) vorgelegt hat, kann in seinem Beitrag am Beispiel der Universität Tübingen zeigen, dass ein "koloniales Interesse an Forschung und Lehre von Einzelpersonen [...] auf die aktive Förderung durch Universität, Ministerien und externe Institutionen [stieß]. Auf diese Weise entstanden neue Forschungsgebiete und Subdisziplinen, von denen einige wiederum verschwanden oder in veränderter Gestalt wiederbelebt wurden" (123). Die Kuratorin am Museum im Ritterhaus in Offenburg, Anne Junk, und der Leiter der Abteilung Archiv und Museum der Stadt Offenburg (bis 2020), Wolfgang M. Gall, haben gemeinsam einen Aufsatz verfasst, in dem sie sich auf koloniale Spurensuche eben in Offenburg begeben. Anne Junk beschreibt in ihrem Teil die Neukonzeption der kolonialzeitlichen Sammlung des Museums im Ritterhaus im Jahre 2017. Zusammen mit ihren beiden Mitkuratorinnen wurde entschieden, "die Geschichte der dt. Kolonien im Rahmen der Ausstellung nicht thematisch darzustellen, sondern eine streng regionale Struktur zu wählen, die durch ein anschauliches Farbkonzept unterstrichen wird" (137).
Das Ergebnis überzeugt weitgehend, allerdings ist die Provenienz der meisten Objekte ungeklärt. Seit 2020 recherchiert jedoch eine Ethnologin über den Erwerbungshintergrund der Sammlungsstücke. Grundsätzlich, darauf verweist Wolfgang M. Gall in seinem Teil des Beitrages, handelt es sich wohl um Geschenke von ehemaligen Bürger*innen, die sich mit ihrer Heimatstaft verbunden fühlten, um Ethnographica, die die Museumsleitung erwarb, um angekaufte Sammlungen von Personen, die aus den Kolonien zurückgekehrt waren, oder von professionellen Händlern. Zwei Gedenktafeln führen zu Militärs aus Offenburger Einheiten, die in den Kolonien ihren Dienst versahen und, so ist zu vermuten, dem Museum Objekte aus ihren Dienstorten mitbrachten. Den Abschluss des Bandes bildet ein interessanter Vergleich der Stuttgarter Kolonialschau aus dem Jahre 1928 mit ähnlichen Ausstellungen in anderen europäischen Ländern (zum Beispiel: 1930 in Liège und Antwerpen, 1931 in Paris, 1934 in Porto oder 1935 in Brüssel). Trotz der sehr schwierigen Quellenlage können Katharina Ernst und Margret Frenz die Entstehung, Planung und Durchführung der Kolonialausstellung nachzeichnen. Als Hauptstadt von Württembergs wollte sich Stuttgart profilieren, wobei die Organisatoren den Einwohner*innen in erster Linie im Sinn hatten, auf den ihrer Meinung nach bedauerlichen Verlust der Kolonien hinzuweisen und die wirtschaftliche Relevanz von Kolonien zu betonen. Ein für die Zeit typischer Kolonialrevisionismus ist unverkennbar. Die Stuttgarter Ausstellung war insgesamt recht klein, sehr traditionell und nur auf deutschen Kolonien fokussiert.
Der Sammelband zeigt deutlich, dass das Kaiserreich auch in der Provinz und auch jenseits der Großstädte Berlin und Hamburg und der Hafenstadt Bremen zutiefst kolonial gewesen ist. Ob es eine typisch "südwestliche" Ausprägung gegeben hat, sei dahingestellt. Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es weitere regionalgeschichtlicher Studien und phänomenologischer Vergleiche.
Anmerkung:
[1] Kolonialismus sei "eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen." Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München 1995, 21.
Stephan Conermann