Rezension über:

Karlis Konrads Vé: Romulus, Quirinus et Victoria. La construction d’une mémoire collective à Rome entre 338 et 290 av. J.-C. (= collection d'etudes anciennes; 86), Paris: Les Belles Lettres 2021, 362 S., 59 s/w-Abb., ISBN 978-2-251-45260-9, EUR 45,00
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Rezension von:
Manfredi Zanin
Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Manfredi Zanin: Rezension von: Karlis Konrads Vé: Romulus, Quirinus et Victoria. La construction d’une mémoire collective à Rome entre 338 et 290 av. J.-C., Paris: Les Belles Lettres 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/36700.html


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Karlis Konrads Vé: Romulus, Quirinus et Victoria

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In diesem Buch untersucht Karlis Konrads Vé die römische politisch-religiöse Ideologie und ihr Verhältnis zur Legende der Stadtgründung für die Jahre 338-290 v.Chr. Ihm zufolge sei in diesem Zeitraum nicht so sehr die 'Entwicklung' einer früheren "staatlichen" bzw. "vorstaatlichen Ideologie" zu erkennen, sondern vielmehr die 'Errichtung' einer veritablen neuen Staatsideologie. Urheber dieses Prozesses sei die römische élite dirigeante gewesen, die dadurch eine klarsichtige und durchaus bewusste Strategie zur Stärkung ihrer Machtstellung und -ansprüche sowie des Prestiges Roms in Gang gesetzt habe. Die Realisierung dieses Projekts und die Etablierung einer bis dahin nicht vorhandenen mémoire collective hätten auf der Neugestaltung der stadtrömischen lieux de mémoire beruht.

Die Beweisführung erfolgt durch vier klar strukturierte Kapitel. Das erste bietet einen Überblick über den historischen Kontext und die Hinweise auf eine Reaktualisierung der Romulus-Legende als gemeinsame Senatsstrategie. Im Zentrum des zweiten und dritten Kapitels stehen die Figur des Quirinus und die Bedeutung von dessen Tempel bzw. die Geschichte und die archäologischen Überreste der aedes Victoriae. Das vierte Kapitel soll die ideologische Relevanz der Verortung sowie der 'Monumentalisierung' der Romulus-Legende auf dem Palatin für die Römer und ihre Elite aufzeigen. Die Schlussfolgerungen bieten eine deutliche Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse sowie der zugrunde liegenden historischen Anschauung.

Der tatsächliche Wert des Buches liegt in der nützlichen Zusammenstellung und Behandlung der meisten Quellen zu Romulus, Quirinus und Victoria für die früheren Zeiten Roms. Die Analyse der archäologischen Überreste sowie der geographischen Vernetzung der lieux de mémoire und Tempel ist überzeugend dargestellt und besonders gelungen. Dürftig erweist sich hingegen das Heranziehen numismatischen Materials (176, 230-7): Crawfords RRC und neuere numismatische Literatur werden nicht verwendet; dem Verfasser ist RRC 268, die zweifelsohne Quirinus abbildet [1], nicht bekannt (an diese Münze müsste Magdelain gedacht haben, aber der Verfasser spricht in seinen Fußstapfen lediglich von "monnayage antique", 54f.); es gibt zudem keinen Grund zu vermuten, dass die verbreiteten, blassen Darstellungen von Victoria auf Verbindungen der Münzmeisterfamilien mit ihrem Kultus hinweisen (vgl. schon RRC, Seite 726).

Bei vorliegender Besprechung lässt sich ein Großteil der diskussionswürdigen Aspekte des Buches leider nicht erörtern. Unvermeidlich scheint mir aber eine Einschätzung der methodischen Vorannahmen sowie der allgemeinen Zuverlässigkeit der geschichtlich-politischen Interpretation.

Zuallererst: Dass die kollektiven Erinnerungen der Römer der älteren Zeit - wie Vé richtig betont - unzugänglich bleiben, bedeutet nicht, dass man von einer 'Konstruktion' des kollektiven Gedächtnisses und nicht von einer 'Rekonstruktion' oder eher 'Umgestaltung' ausgehen soll bzw. darf. Die Behauptung (26f.), dass das römische Gemeinwesen etwa des 5. Jahrhunderts aufgrund der inneren Unruhe über kein kollektives Gedächtnis hätte verfügen können, lässt sich nicht verifizieren. Ein non liquet hätte meines Erachtens der "bonne méthode historienne" (25) besser entsprochen.

Von viel entscheidenderer Bedeutung ist eine weitere im ersten Kapitel aufgestellte Vorannahme. Vé meint, die Gelübde von Tempeln seien nichts anderes als ein Ausdruck des Willens der Senatsmehrheit gewesen: Die Magistrate (irreführend meistens als "généraux" bezeichnet) hätten de facto eine Gottheit auswählen müssen, "qui convenait à la majorité sénatoriale" (32), obgleich sie bei ihren Entscheidungen offiziell frei blieben (auch 105f.). Die gelobten Tempel seien nicht so sehr das Resultat vorherrschender religiös-ideologischer Neigungen unter den Senatoren, sondern vielmehr die Folge von Vereinbarungen, die vor dem jeweiligen Feldzug im Senat stattfanden. Inwieweit man berechtigt ist, der neuentstandenen patrizisch-plebejischen Nobilität politische Geschlossenheit und Kontinuität sowie eine bewusste langfristige Strategie zur Etablierung einer neuen 'staatlichen' Ideologie zuzuschreiben, wird aber nicht näher erklärt. Eine methodische Vorerklärung hätte ebenso die Verwendung von im Buch zentralen, wenngleich kontroversen Begriffen wie 'Ideologie' [2] und 'Staat' bzw. 'staatlich' verlangt. [3]

Überdies fehlt es für die von Vé behandelten Fälle an jeglichem Beleg, dass die Magistrate vor den Feldzügen für ihre Gelübde von den patres berieten bzw. gesteuert wurden, geschweige denn, dass ein solches Verfahren die Regel oder erwartete Norm war. Die (manchmal) vom Senat ausgeübte Kontrolle über die 'Umsetzung' der Gelübde bedeutet keineswegs, dass diese das Ergebnis einer normierten Absprache waren, und noch weniger, dass sie einer größeren Strategie des Senats entstammten. Zwischen beiden Annahmen klaffen logische Lücken. Die von Vé angenommenen Bestrafungsfälle gegen die 'Undisziplinierten' würden immerhin darauf hindeuten, dass die Senatoren keine politische Einheit ausmachten und ihre Entscheidungen eher von konkreten kontextbezogenen Auseinandersetzungen bestimmt wurden. Aber sind solche Bestrafungsfälle tatsächlich nachweisbar? Das Musterbeispiel sollte L. Furius Purpureo (cos. 196) darstellen (35f.), es ist allerdings mehr als fragwürdig, dass die Abwesenheit Purpureos oder seiner (bestenfalls nur gegen 180-160 als Münzmeister [RRC 155, 187] belegten) Verwandten unter den duumviri der zwei von ihm gelobten Tempeln eine Strafe für den umstrittenen Triumph von 200 verrät: Der damalige Prätor wurde von der Senatsmehrheit unterstützt, darunter viele seiner Freunde (Liv. 31.48); dagegen sprachen sich die älteren Senatoren aus. Jedenfalls ist hier von einer um Gelübde zentrierten Debatte keine Rede: Es ging um eine rein politisch-institutionelle Kontroverse.

Des Verfassers Prämissen nach sollte etwa L. Papirius Cursors Gelübde des Quirinus-Tempels die Reaktion der Nobilität auf die politischen Initiativen des Ap. Claudius Caecus und Cn. Flavius darstellen (114ff.). Die vom Tempel versinnbildlichte "vision conservatrice de la concordia ordinum" und die dadurch meisterhaft durchgesetzte politische Ordnung hätten sogar erst 133 mit einer "véritable opposition" konfrontieren müssen (was eine evidente geschichtliche Simplifizierung ist). Der "général" Cursor (eine 'unparteiische' Figur, "[qui] s'occupait exclusivement de la guerre") sei ein bloßes Instrument der Senatsmehrheit gewesen. Über all dies ergeben aber die Quellen keinen Beweis. Die (wahrscheinliche [4]) enge Beziehung der Papirii Cursores zu Quirinus und seinem Tempel - das Pendant zu den aus ihrer militärischen Führung sprudelnden Siegen über die Samniter - wiese eher eine familiäre Dimension dieser Vorliebe auf [5], welche Werte und Orientierungen der allgemeineren Aristokratie zwar reflektierte und in diesen sich harmonisch ordnete, aber keine Folge eines Großprojekts war.

Kurzum: Es ist nicht einzusehen, weshalb man von solchen unbewiesenen "desseins" und Verfahren ausgehen sollte und nicht davon, dass die in den Jahren 338-290 v.Chr. erfolgten Gelübde und Auswahlen von Gottheiten den Quellen und der lex parsimoniae gemäß persönliche Entscheidungen der römischen Magistrate waren, welche, wie aus dem Buch Vés plastisch hervorgeht, einer gemeinsamen Anschauung der entstehenden Nobilität über die Geschichte und die Ursprünge Roms, den Werten des elitären ethos und der Vernetzung der lieux de mémoire entstammten. (Eine solche bewusste ideologische Konstruktion ist durch den Vergleich zwischen Rom und dem Athen des 5. Jahrhunderts [Seite 38-41] nicht zu beweisen). Lehnt man des Verfassers Prämissen ab, bricht leider ein Großteil der historisch-politischen Rekonstruktionen zusammen.


Anmerkungen:

[1] Hollstein, JNG 61 (2011), 37ff.

[2] Vgl. etwa Le Doze, RH 317 (2015), 587ff.

[3] Grundlegend Christoph Lundgreen (Hg.): Staatlichkeit in Rom?, Stuttgart 2014.

[4] Vgl. aber die Zweifel von Münzer, RE XVIII 3, 1050f., 1053.

[5] James H. Richardson: The Fabii and the Gauls, Stuttgart 2012; Amy Russell: The Politics of Public Space in Republican Rome, Cambridge 2016.

Manfredi Zanin