Rezension über:

Doreen Paula: Die Dresdner Gemäldegalerie 1722-1887. Was Inventare und Kataloge über die Geschichte der Sammlung erzählen, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2022, 494 S., 106 Farbabb., ISBN 978-3-496-01663-2, EUR 69,00
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Rezension von:
Dorothee Haffner
Hochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Dorothee Haffner: Rezension von: Doreen Paula: Die Dresdner Gemäldegalerie 1722-1887. Was Inventare und Kataloge über die Geschichte der Sammlung erzählen, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37353.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Doreen Paula: Die Dresdner Gemäldegalerie 1722-1887

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Entstehung und Entwicklung von Sammlungen geraten zunehmend in den Blick der kunsthistorischen Forschung. An ihnen lassen sich neben kunsthistorischen auch zahlreiche andere Fragen abhandeln: Aspekte von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, von Macht, Einfluss und Repräsentationsbedürfnissen wie auch Fragen der Geschmacks- und Kanonbildung. Eine grundlegende Quelle dafür sind Inventare und Kataloge. Bereits Bénédicte Savoy hat in ihrer wegweisenden Publikation 2006 zu den frühen Kunstsammlungen den Blick auf Kataloge gerichtet, Matthias Noell tat ähnliches 2020 für Denkmalinventare. [1] Zunehmend werden ganze Inventare und Sammlungskataloge kritisch ediert und publiziert. [2] 2021 gab es in Berlin eine kleine Ausstellung zur Sammlung Solly, bei der die verschiedenen, zum Teil von Solly selbst erstellten Inventare kritisch beleuchtet wurden, 2023 erschien eine Publikation zur Sammlung der Berliner Nationalgalerie mit dem Fokus auf Erwerbung, Forschung, Dokumentation und Vermittlung. [3]

Die Dissertation von Doreen Paula, 2018 an der TU Dresden bei Gilbert Lupfer abgeschlossen und 2022 als gewichtige Publikation erschienen, fügt sich bestens in dieses Panorama ein. Ihr Ziel ist, "zu zeigen, wie die politische Funktionalisierung sowie die Inbesitznahme der Sammlung durch das Bürgertum zu [...] Richtungsweisern der Entwicklung wurden" (12). Daneben geht es Paula darum, wie das Fach Kunstgeschichte seine Deutungshoheit entwickelte und gegenüber politischen wie bürgerlichen Ansprüchen behaupten konnte. Beide Ansprüche erfüllt sie glänzend. Basis ihrer Untersuchungen sind, neben der einschlägigen, umfangreichen Literatur zur Dresdener Gemäldegalerie, die Inventare und Kataloge und weitere Quellen, vor allem im Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen und im Sächsischen Hauptstaatsarchiv, die Paula souverän ausgewertet hat.

Prägnanter Unterschied zwischen Inventar und Katalog ist die jeweilige Funktion und Zielgruppe. Inventare haben juristischen Charakter, sie verzeichnen den gesamten Bestand und sind (zum Beispiel im Erbfall) für die Nachkommen bestimmt. Kataloge richten sich dagegen an die Öffentlichkeit, also an die Museumsbesucher, sie erschließen nur die ausgestellten Gemälde und geben Erläuterungen und Hinweise zu ihrer Betrachtung an die Hand. [4]

Die klug gewählte Zeitspanne des vorliegenden Buches reicht von der ersten Inventarisierung 1722 bis zum Jahr 1887, in dem der erste Katalog von Karl Woermann erschien. Woermann war der erste Kunsthistoriker im Amt des Galeriedirektors, und mit seinem Katalog begann endgültig die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Werken der Dresdener Galerie. Die sieben Kapitel des Buches schildern in chronologischer Abfolge die Entwicklung der Sammlung durch Zu- und Abgänge, das Wirken der Galeriedirektoren, die Bemühungen um das Verzeichnen der Sammlung und vor allem den sich wandelnden Stellenwert der Sammlung. Jedes Kapitel schließt mit einem knappen Fazit ab, eine zusammenfassende Übersicht aller Kapitel findet sich interessanterweise nicht am Ende, sondern im Vorwort (12-17).

Das erste Inventar entstand in den Jahren von 1722 bis 1728, an ihm zeigt sich die Wertschätzung, die die Gemälde unter Kurfürst Friedrich August I. (August der Starke, 1670-1733) gewannen. Vorher gehörten die Gemälde zur Kunstkammer, 1729 wurden sie ein eigenständiger Verwaltungsbereich und damit als eigene Sammlung aufgewertet (34-46). Parallel dazu vergrößerte August der Starke die Gemäldesammlung erheblich, wobei es aber auf Quantität, nicht auf Qualität ankam. Das änderte sich unter seinem Sohn, Friedrich August II. (1696-1763). Dieser ließ zahlreiche qualitätvolle Gemälde von namhaften, vor allem italienischen Malern erwerben, darunter mit der Sixtinischen Madonna von Raffael das heutige Hauptwerk der Dresdener Galerie, das nach langen Verhandlungen 1754 in Dresden eintraf (46-81). Damit bekam der Galeriebestand einen repräsentativen Charakter und brauchte den Vergleich mit anderen hochrangigen Sammlungen wie der in Paris nicht mehr zu scheuen.

Nach dem Siebenjährigen Krieg, der Sachsen schwer getroffen hatte, publizierte Christian Ludwig von Hagedorn, seit 1764 Galeriedirektor, 1765 einen Galeriekatalog, der die Gründung einer Kunstakademie fördern, deutsche Künstler anziehen und damit die heimische Wirtschaft ankurbeln sollte. Der Galeriekatalog sollte also als Imagebroschüre fungieren (82-105). Inwieweit diese Bemühungen erfolgreich waren, erfährt man bei Paula leider nicht.

Um 1800 etablierte sich neben den bisherigen Besuchern, überwiegend Künstlern und Kennern, eine dritte Besuchergruppe, die Dilettanten. Sie sind durch "individuelle wie emotionale Aneignung der Werke" (124) gekennzeichnet. Darauf reagierte die 1806 erschienene "Beschreibung der churfürstlichen Gemälde-Galerie ...", in der die Beschreibungen der Bildgegenstände einen breiteren Raum einnahmen (115-125). Dieser Katalog verzeichnete nur die öffentlich zugänglichen Gemälde, das 1809 entstandene Galerieinventar listete dagegen alle in der Galerie vorhandenen Werke auf (125-130). Hier werden also die zwei verschiedenen Funktionen von Katalog und Inventar explizit deutlich. Ab 1817 war der Besuch der Galerie (die sich seit 1746 im Johanneum am Altmarkt befand) ohne Führung möglich. Der zeitgleich erschienene Katalog erschließt die Werke denn auch kritisch und zielte offensichtlich auf einen Diskurs mit den Besuchern (140-148). In den nachfolgenden Katalogen nahm das wachsende Interesse an der Geschichte der Malerei allmählich Einfluss auf die Art der Bestandserschließung. Gleichzeitig wird deutlich, dass das sächsische Herrscherhaus der Wettiner sich in Fragen der Präsentation einmischte und zum Beispiel die herausragenden Werke von Raffael und Correggio besonders prominent gehängt haben wollte.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann allmählich die systematische Erschließung mit wissenschaftlichem Anspruch. 1855 war die Sammlung in die neu errichtete Sempergalerie am Zwinger umgezogen, ein Jahr später erschien ein aktueller Katalog. Verantwortet wurde er von Julius Hübner, der bereits viele Kriterien berücksichtigte, die später vom ersten kunstwissenschaftlichen Kongress in Wien (1873) gefordert wurden (203-238). So nannte Hübner neben den üblichen Daten (Künstler, Titel, Technik, Maße) häufig die Provenienzen der Gemälde (aus heutiger Sicht ausgesprochen modern), das Zugangsdatum, alte Zuschreibungen und restauratorische Maßnahmen.

Als der Kunstwissenschaftler Karl Woermann 1882 zum Galeriedirektor berufen wurde, war die Erstellung eines wissenschaftlichen Kataloges eine seiner vertraglich vereinbarten Hauptaufgaben (269-296). Als Disziplin bildete sich die Kunstwissenschaft ab der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich heraus. Woermanns Katalog trug entscheidend dazu bei, das Erstellen von Sammlungskatalogen mit wissenschaftlichem Anspruch als eine Kernaufgabe des Faches zu etablieren. Mit welchen Schwierigkeiten er dabei bei der Galeriekommission wie auch der Dresdener Öffentlichkeit zu kämpfen hatte, vor allem (wie schon Julius Hübner) wegen der Abschreibung berühmter Malernamen, stellt Paula sehr differenziert dar. Woermann beanspruchte damit aber erfolgreich die Deutungshoheit des Faches Kunstwissenschaft, und Wilhelm Bode würdigte den Woermann'schen Katalog denn auch als den "derzeit besten Galeriekatalog".

Form und Gestalt des Buches sind insgesamt beeindruckend. Zwar zeigt das nüchterne Cover keine Abbildung, dafür enthält das verlegerisch aufwendig produzierte Buch rund 100 erstklassige, häufig großformatige Farbabbildungen von Katalogseiten und Archivalien. Der anschaulich geschriebene Text umfasst knapp 300 Seiten (leider mit etwas zu engem Zeilenabstand). Dem ausführlichen Anmerkungsapparat folgen Literatur- und Quellenverzeichnis, außerdem die Transkription ausgewählter Vorworte einzelner Kataloge sowie ein sehr nützliches Verzeichnis der wesentlichen Personen mit Nennung ihrer Funktionen im Zusammenhang mit der Dresdener Gemäldegalerie. Lobend hervorgehoben sei die Tatsache, dass die Publikation auch als eBook erhältlich ist.

Doreen Paula hat am Beispiel der Dresdener Galerie sowohl Museumsgeschichte wie auch Institutions- und Wissenschaftsgeschichte ausgezeichnet aufbereitet. Mit ihrem materialreichen Buch bietet sie ein hervorragendes Fundament für alle weiteren Beschäftigungen mit der Dresdener Gemäldegalerie und - im weiteren Sinn - mit dem Thema der Sammlungserschließung und den sich wandelnden Ansprüchen an Kunstsammlungen.


Anmerkungen:

[1] Bénédicte Savoy (Hg.): Tempel der Kunst, Köln u.a. 2006, 2. Auflage 2015; Matthias Noell: Wider das Verschwinden der Dinge, Berlin 2020.

[2] Dirk Syndram et al. (Hg.): Die kurfürstlich-sächsische Kunstkammer in Dresden. Vier Inventarbände (1587; 1619; 1640; 1741) und ein Essayband, Dresden 2010; Ingrid Dettmann / Agnes Strehlau (Hgg.): Die Herzogliche Kunstkammer in Gotha. Band 1: Inventare, Band 2: Katalog, Petersberg 2021.

[3] Robert Skwirblies (Hg.): Die Sammlung Solly 1821-2021. Vom Bilder-"Chaos" zur Gemäldegalerie. Katalog der gleichnamigen Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie, Berlin 2021; Birgit Verwiebe (Hg.): Die Sammlung der Nationalgalerie zum langen 19. Jahrhundert: Erwerbung, Forschung, Dokumentation, Vermittlung, Heidelberg: arthistoricum.net, 2023. https://doi.org/10.11588/arthistoricum.1080

[4] Grundlegend dazu bereits Thomas Ketelsen: Künstlerviten, Inventare, Kataloge. Drei Studien zur Geschichte der kunsthistorischen Praxis, zugleich Diss. Universität Hamburg, Hamburg 1990.

Dorothee Haffner