Rezension über:

Gilbert Fournier / Balázs J. Nemes (Hgg.): Die Kartause als Text-Raum mittelalterlicher Mystik-Rezeption. Wissensdiskurse, Schreibpraktiken, Überlieferungskonstellationen (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter. Abhandlungen; Bd. 82), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2023, II + 370 S., ISBN 978-3-643-15310-4, EUR 49,90
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Rezension von:
Martina Wehrli-Johns
Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Martina Wehrli-Johns: Rezension von: Gilbert Fournier / Balázs J. Nemes (Hgg.): Die Kartause als Text-Raum mittelalterlicher Mystik-Rezeption. Wissensdiskurse, Schreibpraktiken, Überlieferungskonstellationen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 3 [15.03.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/03/38600.html


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Gilbert Fournier / Balázs J. Nemes (Hgg.): Die Kartause als Text-Raum mittelalterlicher Mystik-Rezeption

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Der Sammelband dokumentiert die Beiträge der Abschlusskonferenz des von der Universität Freiburg im Breisgau initiierten DFG Forschungsprojekts "Making Mysticism. Mystische Bibliothek der Kartause Erfurt". Grundlegende Erkenntnisse dazu liegen bereits in digitaler und gedruckter Form vor. Zu den am Projekt Beteiligten gehören neben Marieke Abram sowie Susanne Bernhardt auch die beiden Herausgeber des vorliegenden Bandes. [1] Mit "Text-Raum" ist wiederum in erster Linie die Bibliothek der Erfurter Kartäuser gemeint, die aber nunmehr ergänzt wird durch Beispiele aus anderen Kartausen des deutschen Sprachraums. Inhaltlicher Schwerpunkt ist die Mystik-Rezeption im 15. Jahrhundert. Sie wird in drei Sektionen näher untersucht.

Die erste Sektion ist dem Erfurter Bibliothekskatalog gewidmet, der eigentlichen Hauptquelle für die Mystik in der Kartause (Handschrift Erfurt, Bistumsarchiv, Hs. Hist. 6). Er stammt aus den Jahren 1475-77 und ist verknüpft mit dem Namen des Bibliothekars Jakob Volradi (gestorben 1498). Ihm ist eine längere Untersuchung von Gilbert Fournier (Freiburg) gewidmet. Auf Volradi, der im Katalog nicht namentlich erwähnt wurde, gehen das Vorwort und die Gliederung des Katalogs in verschiedene Signaturgruppen von A bis O zurück. In diesem Konzept waren die Gruppen mit den Signaturen D, E, F und I den verschiedenen Ausdrucksformen der "mystischen Literatur" vorbehalten. Fournier geht insbesondere ein auf den Gebrauch des Begriffes theologia mystica der Signaturengruppe D, der letztlich zurückgeht auf Ps. Dionysius Areopagita, im Katalog aber unterschieden wird von der Offenbarungsliteratur der Signaturengruppen F und I.

Genaueres zur mystischen Theologie der Gruppe D ist auch dem Beitrag von Susanne Bernhardt (Freiburg) zu entnehmen. Sie vertritt die These, dass Volradi in Anlehnung an ein Zitat des französischen Theologen Johannes Gerson für die Signaturengruppe D die Definition Theologia mystica est divinissima Dei cognitione (Die mystische Theologie ist die höchste Form der Gotteserkenntnis) übernommen und diese mit dem Begriff der Weisheit (sapientia) gleichgesetzt hatte. Volradi zog daraus den Schluss, dass Weisheit und mystische Erkenntnis als höchste Form der Gotteserkenntnis allen Menschen zugänglich waren, während die spekulative Theologie (theologia speculativa) allein den gelehrten Theologen vorbehalten blieb.

Ein enger Mitarbeiter von Volradi war der Erfurter Bruder N., dessen Name bislang noch nicht aufgelöst werden konnte. Ihm zugeschrieben wird eine weitere ehemalige Erfurter Handschrift (heute Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Q 51), die Kees Schepers (Antwerpen) näher in den Blick nimmt. Bruder N. äusserte sich darin unter Berufung auf Ps. Dionysius Areopagita abfällig über Gerson und dessen Kritik an Ruusbroec. [2] Gerson hatte Ruusbroec vorgeworfen, er würde sich in seinem Buch "geistliche Hochzeit" in Höhen der theologischen Spekulation vorwagen, für die er nicht ausreichend gebildet gewesen sei.

Zu den häufig zitierten Buchautoren der Kartause gehörte auch der Augustinerchorherr Hugo von St. Viktor, der zufolge Cédric Giraud (Genf) trotz seines Kommentars zu den Himmlischen Hierarchien des Dionysius Areopagita aber nicht zu den mystischen Autoren gezählt werden sollte.

Einer anderen Rezeptionsspur folgt Stephen Moosman (Manchester) mit seiner Untersuchung zu einer lateinischen Fassung des "Neunfelsenbuches" Rulman Merswins, die im Verbund mit Tauler Predigten im 15. Jahrhundert in die Basler Kartause und später in die Mainzer Kartause gelangte.

Die zweite, sehr viel kürzere Sektion der Mystik-Rezeption gilt dem literarischen Genre der revelationes, die in der Systematik des Erfurter Katalogs der Signaturengruppe I zugehörte und in der erwähnten Handschrift Weimar, HAAB, Q 51, auch die Schriften einiger für Frauen bestimmte Texte enthält. Stephen M. Metzger (Vatikan) untersucht diese Schriften unter dem Gesichtspunkt der affektiven Mystik. Ihm zufolge waren besonders Frauen wie Catharina von Siena und andere dazu bestimmt, das Werk der Kirchenreform durchzusetzen, weil sie eine Frömmigkeit der Demut der einfachen Leute vertraten. Seine Quelle ist ihr Beichtvater Raymund von Capua, während Tom Gaens (Antwerpen), gestützt auf die Schriften Dionysius' des Kartäusers (gestorben 1471), weitere Beispiel zur affektiven Mystik von Frauen anführen kann.

In der dritten und letzten Sektion des Bandes geht es um die meditationes, die theoretischen Überlegungen zu den Begriffen der Mystik. Den Anfang macht Maximilian Benz (Bielefeld), der am Beispiel der mit Erfurt vergleichbaren Bibliothek der Kartause Schnals im Südtirol einen fliessenden Übergang zwischen der Spiritualität der Kartäuser und den Zielen der Devotio moderna feststellt. Benz zufolge gilt dies in besonderem Maße hinsichtlich der Pflege der theologia mystica und der Frauenmystik. Er unterscheidet aber ganz grundsätzlich zwischen affectus und intellectus in den Erfurter Mystik-Diskussionen, zwischen verdienstlichem Handeln und mystischen Spekulationen. Sowohl die Schriften des Kartäusers Jacobus de Paradiso wie auch diejenigen devoter Autoren wie Gerhard Zerbolt van Zutphen und Thomas von Kempen gehörten für ihn zur ersten Kategorie.

Zwei weitere Beiträge haben die Kartause Basel im Blick. Maarten J.F.M. Hoenen (Basel) untersucht die "Spiritualität der Basler Kartäuser aus der Perspektive ihrer Lateinischen Bibliothek" und Linus Ubl (Jerusalem) vergleicht die Gebetbücher der Kartäuser in den Bibliotheksordnungen von Basel und Erfurt. Beide Autoren bringen damit eine neue Perspektive in die Diskussion. Es geht nicht mehr um Mystik, sondern um den Nutzen des Gebets für das geistliche Leben der Kartäuser. Hoenen wertet dazu die Standortverzeichnisse der lateinischen Bibliothek aus (1480 und 1520). Deren letztere wurden vom Bibliothekar Georg Carpentarius kommentiert. Eine besondere Kategorie bilden die opuscula mit der Signatur E mit zahlreichen Werken der Devotio moderna. Gemäss der Praxis der Devoten wurden sie als Teil der spirituellen Praxis ständig korrigiert und meditiert, eine Praxis, die auch bei den gedruckten Exemplaren Anwendung fand. Inhaltlich konnten auf diese Weise die Ziele einer guten Lebensführung ständig eingeübt werden. Hingegen sind die von Ubl herangezogenen Gebetbücher der Kartause Erfurt im weiteren Sinne doch der mystischen Literatur zuzurechnen, insofern sie in der Mehrzahl zusammen mit den Gebeten von Frauen, wie den Schwestern von Helfta, der Signaturengruppe F zugeordnet waren.

Den Abschluss dieser Sektion bildet Christoph Fasbender (Chemnitz) mit seiner spannenden Spurensuche eines Werkes, das im Erfurter Katalog unter dem Titel Speculum animae Hugo von St. Viktor zugeschrieben wurde, tatsächlich aber von Heinrich von Langenstein stammt. Der Text wurde vermutlich 1383/1384 kurz vor seiner Berufung nach Wien geschrieben und gelangte später über die Kartause Mainz in die Kartause Basel. Ins Deutsche übersetzt wurde die Schrift von einem Kartäuser namens Ulrich, den Fasbender als den Mainzer Kartäuser Ulrich von Werda identifizieren konnte. [3]

Die Fragestellung des Kolloquiums hat den Blick auf die Anfänge der Mystik zweifellos geschärft und bereichert. Grundlage blieb die theologia mystica des Ps. Dionysius Areopagita, diese wurde durch die Diskussionen des 15. Jahrhunderts erweitert um den Begriff der affektiven Mystik, die allen Gläubigen als Instrument der Reform empfohlen wurde, aber noch weit entfernt war vom individuellen Mystik-Verständnis der Neuzeit.

Ein ausführliches Register der Handschriften, Werke und Autoren dokumentiert die Breite der in den Beiträgen verarbeiteten Quellen.


Anmerkungen:

[1] Marieke Abram / Gilbert Fournier / Balázs J. Nemes: Making Mysticism. Theologia mystica als historische Kategorie der Wissensordnung in der Katalogisierungspraxis der Erfurter Kartause, in: Die Bibliothek - The Library - La bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen (= Miscellanea Mediaevalia; 41), hgg. von Andreas Speer / Lars Reuke, Berlin / Boston 2020, 621-690.

[2] Siehe dazu auch Marieke Abram, Fournier, Nemes, 653.

[3] Cod. Pal. germ. 107, Universität Heidelberg, datiert 1. Viertel 15. Jh., (https://doi.org/10.11588/diglit.32).

Martina Wehrli-Johns