Reiner Marcowitz: Großmacht auf Bewährung. Die Interdependenz französischer Innen- und Außenpolitik und ihre Auswirkungen auf Frankreichs Stellung im europäischen Konzert 1814/15-1851/52 (= Beihefte der Francia; Bd. 53), Ostfildern: Thorbecke 2001, 304 S., ISBN 978-3-7995-7447-1, DM 74,00
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Christiane Neerfeld (Bearb.): Die französischen Korrespondenzen. 1647-1648, Münster: Aschendorff 2010
Christian Windler (Hg.): Kongressorte der Frühen Neuzeit im europäischen Vergleich. Der Friede von Baden (1714), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Pierre-Étienne Bourgeois de Boynes: Journal inédit, 1765-1766. Suivi du Mémoire remis par le duc de Choiseul au roi Louis XV, 1765. Édition établie et annotée par Marion F. Godfroy, Paris: Editions Honoré Champion 2008
Die Geschichte der internationalen Beziehungen erlebt seit längerem einen erheblichen Aufschwung - zurückzuführen nicht zuletzt auf das nach vierzig Jahren der Erstarrung in zwei Blöcke wieder in Bewegung geratene Staatensystem. Konstitutiv für diesen Aufschwung ist die Abwendung von der vielkritisierten Geschichte der "Haupt- und Staatsaktionen" und der "großen Männer". An ihre Stelle tritt zunehmend die Untersuchung struktureller und systematischer Fragen und Probleme internationaler Politik. Gearbeitet wird mit einem erheblich erweiterten methodisch-theoretischem Rüstzeug, wobei auch verstärkt Ansätze der Politikwissenschaft rezipiert werden. Das von Heinz Duchhardt und Franz Knipping herausgegebene, noch im Entstehen begriffene "Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen" wie auch die von Wilfried Loth und anderen betreute Reihe "Internationale Geschichte" zeugen von dieser Wiederbelebung eines traditionsreichen Zweiges nicht nur der deutschen Geschichtswissenschaft [1]. In diesen Kontext stellt sich auch die vorliegende Studie, die Dresdner Habilitationsschrift Marcowitz' über die französische Außenpolitik zwischen Wiener Kongress und Errichtung des zweiten Kaiserreichs durch Napoleon III.
Die Zeitspanne zwischen 1814/15 und 1870, Blüte des "europäischen Konzerts" der fünf Großmächte Großbritannien, Russland, Österreich, Preußen und Frankreich, hat bereits seit längerem die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, die hier vor allem nach dem "krisenvermeidenden und konfliktlösenden Potential" des Konzerts der Mächte gefragt hat. Der Rolle Frankreichs, des Verlierers von 1814/15, im europäischen Konzert, gilt das Interesse Marcowitz', der exemplarisch "den Nachweis der äußeren wie inneren Bedingungen und Bedingtheiten außenpolitischen Handelns" erbringen will. Einzig die "Darlegung sowohl des Rahmens [...], den das internationale System den nationalen Akteuren setzt, als auch [...] eine Untersuchung von deren innenpolitischen Abhängigkeiten" erlaube "ein tiefergehendes Verständnis für das Funktionieren nationaler Außenpolitik und internationaler Interaktion auch in der Gegenwart, das angesichts der [...] 'neuen Unordnung' des globalen Staatensystems wichtiger denn je anmutet" (10).
Grundsätzlich stellten sich Frankreich als dem Verlierer der Kriegsepoche zwischen 1792 und 1815 zwei Optionen hinsichtlich seiner zukünftigen Rolle im Staatensystem: entweder die Integration und damit Stabilisierung der neuen Ordnung oder die Revision und somit Infragestellung des Systems. Die erkenntnisleitenden Fragen, die sich aus diesen Prämissen ableiten, lauten für Marcowitz folgendermaßen: "Welchen Rahmen setzte das internationale System dem nationalen Akteur Frankreich, und wie nutzte dieser seinen Handlungsspielraum? Inwiefern beeinflußten sich die französische Innenpolitik mit allen ihren revolutionären Umbrüchen und die Außenpolitik des Landes"? (11). Dies erfordert die Untersuchung der Rolle Frankreichs im Staatensystem nach 1815, die Analyse des außenpolitischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesses in seiner Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung, die im Frankreich der Restauration einen erheblichen Einfluss besaß. Damit verbunden sind auch Fragen nach Kontinuitäten und langfristigen Prägungen und ihren Auswirkungen auf die französische Außenpolitik. Welche Rolle spielte die Erinnerung an die Revolution, wie sehr waren außenpolitische Konzeptionen noch von der Tradition des Ancien Régime bestimmt?
Alle französischen Regierungen bis zur Etablierung des zweiten Kaiserreiches waren im Inneren niemals wirklich stabil. Sowohl die restaurierte Bourbonenmonarchie als auch der "Bürgerkönig" Louis-Philippe oder die Zweite Republik sahen sich starken oppositionellen Bewegungen von links und rechts ausgesetzt, die im Parlament nachdrücklich ihre Stimme erhoben und von den Regierenden nicht ignoriert werden konnten. Beide Lager erhoben auch außenpolitische Forderungen, die von der Erfahrung der Vergangenheit geprägt waren: Drängten die Konservativen auf eine aktive Außenpolitik gegen jegliche liberale (und nationale) Bewegung zur Stützung gefährdeter Monarchien, verlangten die Liberalen notfalls auch Interventionen zugunsten nationaler Bewegungen, etwa in Italien, Polen, Spanien oder auch in Deutschland. Im Untersuchungszeitraum sahen sich die französischen Regierungen einem grundsätzlichen Misstrauen der Quadrupelallianz ausgesetzt, die auch noch nach der Ausschaltung Napoleons der Überzeugung war, dass von Frankreich auch weiterhin die größte Gefährdung des Staatensystems ausging (12-14).
Die Studie ist in drei chronologisch aufeinanderfolgende Teile gegliedert - "Die Ära Metternich 1814-1830", "Die Julimonarchie 1830-1848" und "Der Aufstieg Napoleons 1848-1852" -, die sich wiederum in drei Unterkapitel teilen. In ihnen werden die entscheidenden Phasen der französischen Außenpolitik zwischen den hundert Tagen bis zur Proklamation des zweiten Kaiserreiches dargestellt. Einem ereignisgeschichtlichen Überblick folgt jeweils die Diskussion der vorangehenden Entscheidungsprozesse, die multiperspektivisch nicht nur unter Berücksichtigung der französischen, sondern auch der anderen betroffenen Akteure erfolgt.
Bereits während der Verhandlungen auf dem Wiener Kongress gelang es Talleyrand, Frankreich wieder aktiv an den Verhandlungen teilhaben zu lassen (etwa als Protektor der mindermächtigen Staaten 29-38) und so zum erfolgreichen Abschluss des "europäischen Friedensvollzugskongresses" (E. R. Huber) beizutragen. Somit wurde Frankreich in die Friedensordnung eingebunden und nicht zum Paria Europas erklärt. Ein weiterer Schritt hin zur Reintegration Frankreichs in das Staatensystem war die Beseitigung des Besatzungsregimes und die Zulassung zu den Beratungen der Siegermächte (Aachener Kongress 1818). Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber Paris blieb jedoch noch lange erhalten und findet sich immer wieder in Aufzeichnungen Metternichs (58, 66, 72, 122). Erste Nagelprobe der Zuverlässigkeit Frankreichs im Wiener System stellten die revolutionären Aufstände in Spanien und Italien zu Beginn der 1820er Jahre dar, die die Grundsatzfrage des Wiener Systems aufwarfen: Intervention zur Wiederherstellung der legitimen Ordnung oder Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und damit Zurückhaltung, solange die Grenzenziehungen von 1815 nicht in Frage gestellt wurden. Hier und in weiteren Aufständen zeigt sich eine zunehmend von der jeweiligen Situation abhängige Handhabung der Interventionsproblematik. Ließ Frankreich 1823 durch einen kurzen und erfolgreichen Feldzug die absolutistische Regierung Ferdinands VII. von Spanien wiederherstellen, verzichtete man 1830 auf einen Einmarsch in Belgien, nachdem die neue Regierung in Paris eben anerkannt worden war und die Quadrupelmächte selbst von einer Intervention zugunsten der vertriebenen Bourbonen abgesehen hatten. Die bis 1848 immer wieder auflebende Diskussion um Interventionen anlässlich der Revolutionen in Polen, Italien, Deutschland und Frankreich demonstriert das langsame Auseinanderfallen der Wiener Ordnung - die Pentarchie ließ sich zunehmend von Egoismus und Machtpolitik leiten, kurzfristige Zusammenarbeit trat an die Stelle des Konzerts der Mächte (222-224). Die Kategorie der "ideologischen Blockbildung" (Heinz Gollwitzer) kann jedoch nur eingeschränkt zur Umschreibung der Situation des europäischen Staatensystems der dreißiger Jahre genutzt werden. Zwar können mit diesem Begriff "zutreffend die innenpolitischen Übereinstimmungen zwischen liberalen und konstitutionell-parlamentarischen bzw. konservativen und autokratischen Regimen erfaßt sowie daraus tatsächlich unterschiedliche außenpolitische Handlungsgegensätze und Bewegungsspielräume abgeleitet werden", doch keinesfalls folgen aus den "Affinitäten des innenpolitischen Systems zwangsläufig auch außenpolitische Nähe, ja Bündnisse" (148f.). Dies zeigt sich gerade an den französisch-englischen Beziehungen. Nach einer Phase der Annäherung führte die Orientkrise/Rheinkrise von 1839/40 letztlich einen Bruch herbei, als sich die alten Gegner erneut gegen Frankreich stellten (157). Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Mächte der Pentarchie einigen konnten, war schließlich nur noch der Erhalt des territorialen Status quo von 1815, der dann 1859/61 (Gründung des Königreichs Italien) fundamental revidiert wurde, nachdem bereits 1853-1856 (Krimkrieg) die einstigen Partner gegeneinander Krieg geführt hatten.
Die französischen Außenpolitiker von den Bourbonen bis hin zu den Anfängen Napoleons III. sahen sich angesichts dieser Entwicklungen vor ein von Marcowitz überzeugend herausgearbeitetes "grundsätzliches Dilemma" von "übersteigertem Großmachtstreben und begrenzten machtpolitischen Möglichkeiten" (261) gestellt: "Einerseits war Frankreich seit dem Aachener Kongreß 1818 wieder ein formal gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Pentarchie und blieb dies auch nach der Julirevolution; andererseits bestand der Vorbehalt der ehemaligen Verbündeten der 'Großen Allianz' gegenüber dem französischen Revolutionsherd weiter [...]. Zumindest für die Regierungen Großbritanniens, Rußlands, Österreichs und Preußen bestand kein Widerspruch darin, Frankreich gleichzeitig als momentanen diplomatischen Partner wie als potentiellen militärischen Gegner zu betrachten" (118). Hinzu kam der Druck der öffentlichen Meinung in Frankreich, die die Wiederherstellung der vergangenen Groß- und Vormachtstellung forderte. In Fragen der Deutschlandpolitik sprachen Diplomaten immer wieder von der notwendigen Orientierung an den Vorbildern Heinrich IV., Richelieu und Ludwig XIV. (61, 88), obwohl seit 1815 Frankreichs Haltung gegenüber Deutschland eher von der "Expansionsabstinenz" [2] der letzten Jahrzehnte des Ancien Régime geprägt war (96-98).
Angesichts der latenten Feindseligkeit der anderen Pentarchiemächte, der unkalkulierbaren Risiken eines europäischen Krieges, der fraglichen Stabilität ihres Regimes und "trotz der populären Agitation im eigenen Land gegen die Verträge von Wien" entwickelten sich nicht nur die Bourbonen Ludwig XVIII. und Karl XII., sondern auch gerade der durch eine Revolution an die Macht gelangte Louis-Philippe zu Politikern des Status quo und der umsichtigen Friedenswahrung in Europa. Diese Linie wurde aufgegriffen von der zweiten Republik - Lamartine - und auch noch von Napoleon III. "Frankreich erwies sich bis in die Regierungszeit Napoleons III. eher als retardierendes Element, das sich deutlich abhob von der Dynamisierung der europäischen Politik, für die das sich seiner politischen Ausstrahlung und wirtschaftlichen Überlegenheit bewußte Großbritannien stand" (257). Die einzige Ausnahme von dieser Linie bildete die Rheinkrise von 1840, zu deren Beilegung Louis-Philippe durch die Entlassung des Ministerpräsidenten Adolphe Thiers entscheidend beitrug. Dies war ein wesentlicher Grund für die Stabilität der Wiener Nachkriegsordnung bis zum Ausbruch des Krimkrieges. "Die Entwicklung der Folgezeit sollte belegen, daß in der Vergangenheit nur das Zusammenspiel von Siegern und Besiegtem der Napoleonischen Kriege Frieden und Gleichgewicht in Europa gesichert hatte" (258).
Insgesamt gelingt Marcowitz überzeugend die Beantwortung der Ausgangsfragen, allerdings vermisst der Rezensent angesichts von Marcowitz' Berufung auf die erneuerte Geschichte der internationalen Geschichte einige Aspekte, die diese Erneuerung besonders charakterisieren. Ergänzt werden könnte eine institutionen- und sozialgeschichtliche Untersuchung der Entscheidungsträger, die unter anderem deren Einbindung in Traditionen und Klientelverhältnisse erhellen würde: Wann, wie und mit welchen Konsequenzen vollzog sich der Generationswechsel innerhalb des diplomatischen Korps von den noch durch Ancien Régime und Revolution geprägten Gesandten hin zu denen, die im Kaiserreich aufwuchsen? Wie wirkte sich etwa Talleyrands lange Präsenz in der französischen Außenpolitik auf die personelle Struktur des Außenministeriums aus? Welche Einflussmöglichkeiten hatten die Gesandten auf die Gestaltung der Politik, war z.B. Talleyrands Agieren in London 1834 gegen die Weisungen des Außenministers Rignys ein Einzelfall (144f.)? Wurden von Einzelnen überhaupt die strukturellen Zwänge des Staatensystems wahrgenommen? Dies verbindet sich mit der Frage nach der Persistenz von Feind- und Fremdbildern, die ja gerade die deutsch-französischen Belastungen der Zeit prägten. Sie werden angesprochen (zum Beispiel 81-83, 168-170), aber der Frage, inwieweit sie vielleicht auch eine die Wiener Ordnung prägende Struktur darstellten, wird nicht weiter nachgegangen. Dies hätte die hier von Marcowitz gewählte Perspektive, eine moderne Variante des von den Historikern des Staatensystems gepflegten "klassischen" Blicks von oben, auf die Staaten als Akteure, durch einen Blick von unten ergänzt. Gleichwohl liegt mit Marcowitz' Studie eine detaillierte, zur weiteren Diskussion einladende Darstellung nicht nur der französischen Außenpolitik, sondern auch über grundsätzliche Probleme des europäischen Staatensystems der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor.[3]
Anmerkungen:
[1] Vom Handbuch sind bislang erschienen: Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1789 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 4), Paderborn 1997, und Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 6), Paderborn 1999; in der von Wilfried Loth und anderen betreuten Reihe erschien zuletzt: Wilfried Loth: Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten (= Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 10), München 2000.
[2] Eckart Buddruss: Die französische Deutschlandpolitik 1756-1789 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte, Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Bd.157), Mainz 1995, 294.
[3] Zwei kleine Fehler sollen an dieser Stelle noch korrigiert werden: Der Autor der biographischen Studie über den deutschen Diplomaten in französischen Diensten, Karl Friedrich Reinhard, heißt Jean Delinière, nicht Delimière (270, diese Schreibweise wird auch in Anmerkung 23 [79], Anmerkung 56 [84], Anmerkung 69 [88] übernommen); beim französischen Zitat muss es heißen "Car l'effet du succès de l'Espagne écartait la crainte ..." statt "Par l'effet du succès de l'Espagne écartait la crainte ..." (89, Zeile 21). Entsprechend ist die Übersetzung des Zitates auf Seite 288 zu berichtigen.
Sven Externbrink