Rezension über:

Achille Bonito Oliva: Die Ideologie des Verräters. Manieristische Kunst - Kunst des Manierismus. Aus dem Italienischen von Heinz-Georg Held, Köln: DuMont 2001, 264 S., 36 Abb., ISBN 978-3-7701-5424-1, EUR 35,80
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Rezension von:
Marcus Kiefer
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Marcus Kiefer: Rezension von: Achille Bonito Oliva: Die Ideologie des Verräters. Manieristische Kunst - Kunst des Manierismus. Aus dem Italienischen von Heinz-Georg Held, Köln: DuMont 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 2 [15.02.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/02/2301.html


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Achille Bonito Oliva: Die Ideologie des Verräters

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Unter der Maske des Brandneuen hat der DuMont-Verlag ein Manierismus-Buch von staunenswerter Abgestandenheit publiziert. Sein Verfasser, der 1939 geborene Achille Bonito Oliva, ist seit den späten Sechzigerjahren vornehmlich als Kritiker und Kurator in Sachen Gegenwartskunst tätig und zählt zu den prominenten Stimmen im Kunstgespräch Italiens. Dass er sich als Buchautor ausgerechnet am Manierismus versucht hat, erklärt sich aus der geläufigen Vorstellung, der Manierismus als epochaler Stil, der die Bindung des Kunstwerks an Naturvorbilder gelockert und eine Vergeistigung des Stofflichen herbeigeführt habe, sei der Vorbote der ästhetischen Moderne. Die Annahme, manieristische und moderne Kunst ständen in einem spezifischen Verhältnis, stützt sich jedoch - spätestens seit Dvorák - nicht allein auf die Beobachtung einer befreienden Regellosigkeit im Stilistisch-Formalen, sondern auch auf die weiter reichende Vorstellung, die permanente Krise, in der sich die Moderne befinde, habe im Manierismus ihr historisches Pendant. Auch Oliva nimmt das Epochenpaar Manierismus - Moderne in mehr als einer Beziehung in Anspruch, am nachdrücklichsten in ideen- und bewusstseinsgeschichtlicher Hinsicht. Von erster Wichtigkeit ist in diesem Zusammenhang, dass Oliva das Weltverhältnis des manieristischen Künstlers als Paradigma des modernen Bewusstseins diskutiert. Dabei werden Gedanken und Erfahrungen, die sich innerhalb eines fortgeschrittenen und fortschreitenden säkularisierten modernen Diskurses entwickelt haben - vor allem die große metaphysische Enttäuschung und Sinnverlusterfahrung -, auf methodisch bedenkliche Weise in die Epoche des Manierismus zurückprojiziert (dazu später mehr).

Freilich, das Thema des hier anzuzeigenden Buches ist nicht neu, der Text allerdings auch nicht. Er erschien bereits Mitte der Siebzigerjahre zum ersten Mal, und zwar in italienischer Sprache ("L'ideologia del traditore. Arte, maniera, manierismo", Mailand 1976). Leider hat Olivas Manierismus-Interpretation in dem Moment, in dem sie in Deutsch vorliegt, ihr Verfallsdatum längst überschritten, so sie denn jemals vertretbar war. Aus diesem Grunde muss an Stelle der üblichen Frage nach dem aktuellen Wert einer solchen Darstellung die Frage nach ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Standort aufgeworfen werden. Respekt vor der Zeitgebundenheit wissenschaftlicher Arbeit scheint hier gefordert, denn Gedanken und Bücher tragen die unauslöschliche Prägung ihrer Entstehungszeit. Ich fürchte allerdings, dass Olivas methodischer Ansatz bereits beim Erscheinen der italienischen Textfassung veraltet und etwas pittoresk erscheinen musste.

Oliva verwendet den Manierismusbegriff nicht etwa nur als gattungsübergreifenden Stilbegriff, sondern als Bezeichnung für die weit über den Bereich der bildenden Künste hinausreichende, diskursüberschreitende, ja alle Realitätsgrößen prägende Grundtendenz der Epoche. Olivas Epochen-Bestimmung ist, kurz gesagt, holistisch. Dementsprechend ist in dem Gesamtbild, das Oliva vom Westeuropa der Frühneuzeit zeichnet, die Buntheit der damaligen Lebenswirklichkeit fast vollständig eliminiert, auch fehlt jede Detailschärfe. Hierfür ein besonders markantes Beispiel (23): "Im Manierismus sind es allein die Prinzipien der Realpolitik, die alle übrigen gesellschaftlichen Parameter bestimmen, während sich andere Maßstäbe und Wertvorstellungen, an denen sich die Existenz orientieren könnte, als unhaltbar erweisen." Durch diese vollends ahistorische Projektion eines modernen Intellektuellen, die Machiavelli grob verallgemeinernd zur Signatur der Epoche erhebt, wird eine erhebliche Vielfalt von Bekenntnissen und Religionen, von Werten, gesellschaftlichen Gruppen und von die Wirtschaft wie die Politik bestimmenden Kräften ungeniert weggeleugnet. Wer in dieser rabiaten Form gegen geschichtliche Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit angeht, ist durchaus ungeeignet, die Strukturen einer historischen Epoche in ihrer unauflösbaren Komplexität aufzuzeigen.

Indem Oliva seine Epochen-Bestimmung holistisch konzipiert, beraubt er sich vieler Erkenntnischancen. Statt sein Augenmerk lediglich auf einen bestimmten Gegenstandsbereich - etwa die italienische Malerei oder die englischsprachige Literatur - zu richten oder seine Aufmerksamkeit auch nur ein einziges Mal auf einen bestimmten Künstler oder ein bestimmtes Kunstwerk zu konzentrieren, richtet Oliva sein Interesse durchweg auf das große Ganze. Um es überspitzt zu sagen: Oliva interessiert sich nicht für Pontormo, ihn interessiert "der manieristische Künstler"; er interessiert sich nicht für Shakespeare, ihn interessiert "der manieristische Dichter". Ordnungsstiftende Verallgemeinerungen sind zwar bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar, doch nur bis zu einem gewissen Grad, und dieser wird von Oliva weit überschritten. Sein Buch opfert alles Individuelle am Altar geläufiger Allgemeinbegriffe - ein extrem blutarmes Geschäft!

Gegen Oliva lässt sich weiter einwenden, dass er die Zentraltexte von Freud, Lacan, Derrida und Foucault, wie seine Argumentation und das Literaturverzeichnis unschwer erkennen lassen, in weitaus größerem Umfang zur Kenntnis genommen hat als die Quellenschriften des 16. und 17. Jahrhunderts. Die methodisch entscheidende, von Oliva aber übergangene Frage ist, ob man die eingebrachten Theorie-Splitter, etwa die Theoreme psychoanalytischer Provenienz, ohne Bedenken in einen Erklärungszusammenhang mit dem historischen Quellenbefund bringen kann. Auf Grund mangelnder gedanklicher und sprachlicher Klarheit bleibt undeutlich, ob und - wenn ja - in welcher Weise die Zuhilfenahme psychoanalytischer Theoriemomente dem Verstehen manieristischer Künstlerpersönlichkeiten dienen kann. Aus welchem Grund Oliva das Vokabular der Psychoanalyse in seine wabernde Gedankenführung einführt, lässt sich in den meisten Fällen nicht erkennen. Ein Beispiel (11): "In der manieristischen Kunst konstituiert sich das Über-Ich aus der Vorstellung eines universalen Regelkanons, aus der Macht der Form, die sich ihrerseits der normativen Autorität der Perspektive verdankt. Infolgedessen wird die Form als Garant der Möglichkeit verstanden, den Strom der Phantasie und die Anmut einer überzogenen und eigensinnigen Inspiration zu einem neuen Konzept zu verbinden." Man muss sich darüber klar sein, dass hoch tönende Äußerungen dieser Art nicht mehr Wissenschaft sind, nichts Nachprüfbares, sondern suggestive Unbeweisbarkeiten, die man nach Gefallen akzeptieren oder verwerfen kann.

Was sein Verständnis manieristischer Gestaltungsmittel im Bereich der bildenden Kunst anbelangt, so folgt Oliva dem Klassik-Antiklassik-Modell, also der vornehmlich von Walter Friedländer entwickelten These, die manieristische Darstellungsart sei als Widerpart zu einer Klassik (zum Stil der Hochrenaissance etwa) zu bestimmen. Indes nimmt Oliva an, dass in der Kunst des Manierismus mehr geschehe als eine künstlerische Zurückweisung oder Überbietung der bis dahin geltenden ästhetischen Normen. Das Gestrige und Vernagelte seiner Interpretation zeigt sich vor allem darin, dass er mancherlei auffällige Bildphänomene - Deformationen und Verdrehungen etwa - als Symptome einer Krise interpretiert und gerade hierin, in einer unbefragt angenommenen Krisenhaftigkeit, das zentrale Kennzeichen des Manierismus erblickt. Gleich auf der ersten Textseite hat Oliva das Gesamt- und Vorverständnis ausgesprochen, mit dem er seinem Material zu Leibe geht (9): "Der manieristische Künstler bedient sich des Stils, um sich damit zu wappnen, er gebraucht ihn wie eine Rüstung, um jener umfassenden Katastrophe begegnen zu können, die das gesamte 16. Jahrhundert durchzieht." Dass der manieristische Künstler, wie der Klappentext vermerkt, von einem tief gewordenen Zweifel an einer harmonischen Weltordnung und einer allgemeinen Weltangst getrieben sei, ist die These, die als Kerngedanke des Buches anzusehen ist; allerdings bleibt Oliva dieser These durchaus den Beweis schuldig. Die Grundannahme, das unnatürlich Gekünstelte manieristischer Kunstäußerungen sei Ausdruck einer psychisch-geistigen Ungewissheit menschliche Existenz betreffend, wird zum Ausgangspunkt von Überlegungen, in deren Verlauf Oliva so kernig schwadroniert, dass immer wieder offenkundig Unsinniges dabei herauskommt, so etwa auf Seite 56: "Der manieristische Künstler lebt vollkommen zurückgezogen in einer in sich abgeschlossenen Gegenwart, die weder das Begehren nach Zukunft noch die Möglichkeit irgendeiner Zukunft kennt und deshalb die Geschichte auf eine bloße Chronik von Schreckensereignissen reduziert." Menschen anderer Zeiten und Orte mögen auf zutiefst irritierende Weise anders denken und handeln als wir, aber dass für manieristische Künstler die Zukunft ein Nichts sei, kann auf Grund der transhistorischen Verfasstheit des Menschen wohl ausgeschlossen werden.

Um es zu wiederholen: Die Vorstellung, dass in der ästhetischen Innovation des Manierismus sehr viel mehr zu Tage trete als eine ästhetisch immanente Innovation der Kunst, konkretisiert sich bei Oliva in der Überzeugung, dass die Kunst des Manierismus als Reaktion auf eine existenziell bedrohliche Erschütterung aller Lebenssphären zu verstehen sei. Dabei handelt es sich um eine Verursachungsvermutung, die Oliva von Gustav René Hocke entlehnt, und zwar aus dessen Buch 'Die Welt als Labyrinth' von 1957 (schon die Tatsache, dass Oliva seinen Text mit einem umfangreichen Hocke-Zitat eröffnet, ist Hinweis genug, welch zentrale Bedeutung dieser Autor als Lieferant von Kategorien und Konzepten hier besitzt). Ähnlich wie sein Vordenker behandelt auch Oliva die Krise als das eigentlich Konstitutive des Manierismus, und ähnlich wie Hocke tut er dies nicht im Sinne einer Interpretationshypothese, die gegen Einwände erst noch immunisiert werden müsste, sondern im Sinne einer ausgemachten Tatsache. Statt die Groß-Frage, was Manierismus eigentlich sei, von verschiedenen Seiten her in Angriff zu nehmen, wird in dieser Sichtweise die Definitionsfrage stillschweigend als gelöst betrachtet. Achille Bonito Oliva betrachtet also das Gesuchte als etwas Gefundenes, das Gesetzte als etwas Gegebenes. Dabei kann nichts Brauchbares herauskommen. Eine Bemerkung am Rande: Eine holistische Stilinterpretation wie die Olivas, die den Manierismus insgesamt als Ausdruck einer gesellschaftlichen und geistigen Krise deutet, konnte nur von einer Kunstgeschichte entwickelt werden, die den Stil als Spiegel geschichtlicher Grundphänomene betrachtete, die also in einer späten Nachfolge Winckelmanns die Spiegelfähigkeit der Kunst im Hinblick auf geschichtliches Wesen überschätzte und dadurch dem Kunsthistoriker einen Rang zumaß, der ihm nicht zukommt: nämlich Erklärer der Vergangenheit schlechthin zu sein.

Dass Oliva wiederholt mit haarsträubenden Annahmen operiert, die aus den behandelten Gegenständen nicht abzulesen sind, sondern zunächst einmal in sie hineingetragen werden müssen, ist bereits angeklungen. Was die Lektüre des Buches darüber hinaus so unerfreulich macht, ist die Tatsache, dass der Verfasser zumeist kurzgefasste Urteile fällt, die in ihrer apodiktischen Formulierung nicht nur keinen Widerspruch dulden, sondern den Leser kaum zur Besinnung kommen lassen. Der Leser wird mit einem Schwall von Behauptungen überschüttet, die sich ins Allgemeine verlieren und durch keinen empirischen Befund gestützt sind. Jeder dritte oder wenigstens jeder vierte Satz erscheint als sinnleeres Klappern mit Begriffen; jeder zweite oder dritte Gedanke geht in die Irre oder bleibt unverständlich. Mit Blick auf Pontormos Lünettenbild im zentralen Festsaal der Villa Medicea in Poggio a Caiano heißt es etwa (55): "Nicht nur, daß die Farbigkeit insgesamt abnimmt, sie verblaßt tatsächlich in dem konkreten Sinn, daß damit eine Rückkehr zur anorganischen Welt angedeutet werden soll. Alles wird Form und nichts ist in Wirklichkeit Form." (Wer Gelegenheit hatte, Heinz-Georg Helds Übersetzungskompetenz an anderen Büchern zu studieren, weiß, dass die Ungereimtheiten des vorliegenden Textes keinesfalls dem Übersetzer anzulasten sind.)

Mit seinem Versuch, die Epochenprobleme des Manierismus zu erhellen, ist Oliva gescheitert. Die Epochen-Bestimmung, die das Buch entfaltet, besteht aus verstiegenen Kathedersprüchen und gestelzten Binsenwahrheiten. Dass Leser, die einen Einstieg ins Thema suchen, den hier angezeigten Band meiden und stattdessen die Manierismus-Bücher von Shearman und Arasse/Tönnesmann zur Hand nehmen, bleibt zu hoffen (John Shearman: "Mannerism", London 1967; Daniel Arasse und Andreas Tönnesmann: "Der europäische Manierismus. 1520-1610", München 1997).

Marcus Kiefer