Frank Zöllner: Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. Gesehen von Giorgio Vasari und Ascanio Condivi (= Rombach Wissenschaften. Quellen zur Kunst; Bd. 17), Freiburg/Brsg.: Rombach 2002, 132 S., 18 Abb., ISBN 978-3-7930-9281-0, EUR 15,30
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Ein Kommentar, sei er theologischer, juristischer oder historisch-philologischer Natur, ist normalerweise bei weitem umfangreicher als der Text, den er kommentiert. Die beiden letzten Bücher der "Annalen" des Tacitus zum Beispiel umfassen knapp 100 Teubner-Seiten, während der entsprechende Kommentarband von Erich Koestermann gut 400 wesentlich enger bedruckte Seiten einnimmt. Analoges gilt für die Interpretation poetischer Texte: Wenn etwa Alfred Noyer-Weidner ein Gedicht von Baudelaire oder Apollinaire mit beispielhafter Gründlichkeit interpretiert, füllt die gelehrte Deutung üblicherweise mindestens 50 Seiten. Textkommentare und Textinterpretationen sind also in der Regel "Amplifikationen" eines Textes (nicht selten schwellen sie ins Uferlose an). Im hier vorzustellenden Buch von Frank Zöllner, das durchaus bekannte und oft zitierte Quellen zur Sixtinischen Decke ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist das quantitative Verhältnis zwischen den Quellentexten und der Textkommentierung ein anderes, denn der Verfasser hat sich in mancher Hinsicht darauf beschränkt, die schriftlichen Dokumente für sich sprechen zu lassen. Es sind die Michelangelo-Biographen des Cinquecento, die hier vorwiegend zu Wort kommen.
Die Struktur des Bändchens ergibt sich aus einem vorangestellten Abbildungsteil (7-26), dem Quellenkapitel, das ausgewählte Textpassagen in der Originalsprache wie in neuen Übersetzungen präsentiert (27-85), und den Ausführungen des Verfassers, zu deren Kennzeichnung die Kapitelüberschrift den literarischen Gattungsnamen "Essay" bemüht (87-123). Man darf annehmen, dass Zöllner das Systemlose und betont Vorläufige, das den Essay als eigenständige Textgattung konstituiert, hier ins Spiel gebracht hat, um anzudeuten, dass er ein hochkomplexes Jahrhundertwerk wie Michelangelos Sixtina-Decke (beziehungsweise deren Reflexe im Medium nicht minder schwieriger Schriftzeugnisse) nur dann auf knappstem Raum behandeln kann, wenn er die subjektive Willkür der Aspektauswahl als Bedingung der Möglichkeit seines Schreibens akzeptiert. Darüber hinaus signalisiert die Gattungsbezeichnung "Essay", dass der Text nicht nur für fachgelehrte Köpfe, sondern für ein größeres Publikum gedacht ist.
Zöllner betrachtet die Deckenbemalung der Sixtinischen Kapelle im Spiegel zweier Hauptquellen, der Michelangelo-Viten von Ascanio Condivi (1553) und Giorgio Vasari (1568). Unvermeidlich, dass vor dem Hintergrund dieser Texte nicht etwa die formale und inhaltliche Konzeption der Fresken, sondern deren Entstehungsumstände in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Um die Begleitumstände der Auftragserteilung im Jahre 1508 sachgerecht beleuchten zu können, präsentiert Zöllner in drei Appendizes zusätzliches Quellenmaterial: einen Brief, den Piero Rosselli am 10. Mai 1506 an Michelangelo schrieb, einen Briefentwurf, den Michelangelo gegen Ende des Jahres 1523 zu Papier brachte, und die Kurzbiografie Michelangelos, die Paolo Giovio, der erste Biograf Michelangelos, vermutlich im Jahre 1527 verfasste. Auch diese Schriftquellen sind im Original und in deutscher Übersetzung abgedruckt.
Die Übertragungen ins Deutsche sind durchweg erfreulich zu lesen. Was die Passagen aus Condivis Michelangelo-Vita betrifft, so folgte Zöllner weitgehend der Übersetzung von Rudolph Valdek (Wien 1874). Mit Augenmaß hat er die Übertragung Valdeks geglättet und dem heutigen Sprachgebrauch angeglichen. Im Falle der Michelangelo-Vita Vasaris orientierte sich der Übersetzer an der deutschen Vasari-Ausgabe von Ludwig Schorn und Ernst Förster, deren erster Band 1832 publiziert wurde. Einmal mehr ist daran zu erinnern, dass Adeline Seebeck (1799-1874) die eigentliche Übersetzungsarbeit für diese knapp kommentierte Edition leistete [1]. Auch die Übersetzung Seebecks gewinnt erheblich durch Zöllners moderat modernisierte Neufassung. Es ist ein Verdienst des vorliegenden Buches, die wichtigsten Schriftquellen zur Sixtinischen Decke in getreuen, zugleich jedoch lesbaren und zeitgemäßen Übertragungen einem breiteren Lesepublikum anzubieten. Mehr noch: Da der Text Vasaris der Viten-Edition von 1568 folgt und Zöllner die Textabschnitte, die in der Ausgabe von 1550 noch nicht enthalten waren, durch Kursivdruck hervorgehoben hat, gestattet das Bändchen ohne mühevollen Textvergleich eine Lektüre, bei der man Vasari gewissermaßen beim Umgang mit seinen Quellen über die Schulter schauen kann, denn die neu eingefügten Abschnitte sind mehrheitlich Condivis Michelangelo-Biografie (1553) entlehnt.
Erst in der erweiterten Ausgabe von 1568 weiß Vasari - im Anschluss an Condivi - zu berichten, dass eine handfeste Verschwörung, die Bramante mithilfe Raffaels angezettelt habe, die entscheidende Voraussetzung dafür darstellte, dass Michelangelo von Papst Julius II. den Auftrag erhielt, die Gewölbefresken in der Cappella Sistina zu projektieren und zu realisieren. Berufliche Eifersucht sei im Spiel gewesen. In der sicheren Erwartung, dass der "Bildhauer" Michelangelo an der Mammutaufgabe einer Gewölbeausmalung scheitern werde, hätten seine schärfsten Konkurrenten am Papsthof, Bramante und Raffael, dem amtierenden Papstherrscher die Idee nahe gelegt, Michelangelo mit der Freskierung der Sixtinischen Decke zu beauftragen. Zöllners "Essay" enthält in seinem Kern den Versuch, diese Intrigenerzählung wie eine Seifenblase platzen zu lassen. Aus der Zusammenschau aller Dokumente, so Zöllner, ergebe sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass im Vorfeld der Auftragsvergabe von Machenschaften Bramantes und Raffaels keine Rede sein konnte. Zur Stützung dieser These hat der Verfasser viel Material zusammengetragen, das, aufs Ganze gesehen, solche Durchschlagskraft besitzt, dass man ihm beipflichten muss. Gegen Ende des von Zöllner vorgelegten Indizienbeweises eröffnet sich dann überraschenderweise die Denkmöglichkeit, dass der vermeintliche Bösewicht Bramante den jungen Michelangelo sogar zu fördern versuchte.
Im Schlussteil seiner Analyse widmet sich Zöllner dem vielbedachten Umstand, dass Vasari die Künstlerbiografie zu einer Gattung gemacht hat, in der die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und der Person des Künstlers so verstanden wurde, dass die Kunst als Ausdruck, Darstellung oder Abbild des Künstlers eine historisch neue Geltung erlangte. Die überall hervorscheinende "terribilità", die Michelangelos Werk auszeichnet, ist für Vasari auch Kennzeichen seines Charakters. Die durchaus modernen Züge einer solchen Rede- und Vorstellungsweise werden von Zöllner noch einmal nachdrücklich unterstrichen. Wenn er in diesem Zusammenhang die Geschichte der toskanischen Redensart "Ogni pittore dipinge sé" ("Jeder Maler malt sich selbst") kenntnisreich verhandelt, kann sich derjenige, der Zöllners Aufsatz zu diesem Thema kennt, des Eindrucks der Schubladenhaftigkeit nicht gänzlich erwehren [2]. Und doch, auch dieser Teil von Zöllners "Essay" wirft ein erhellendes Licht auf Vasaris Michelangelo-Vita, man liest ihn mit Gewinn, es fehlen aber Akzente, die dem Kenner der Materie das Thema aufs Neue interessant erscheinen lassen.
Unbeschadet vieler Vorzüge hätte man sich in dem Buch insgesamt etwas mehr Textanalyse gewünscht. Es ist kaum zu übersehen, dass die Werkbeschreibungen Vasaris und Condivis als Medium der Kunstrezeption in Zöllners "Essay" nur sehr wenig Beachtung finden. Der Quellenwert der Michelangelo-Biografien des 16. Jahrhunderts müsste aber nicht zuletzt einer Betrachtungsgeschichte zugute kommen.
Anmerkungen:
[1] zur Entstehungsgeschichte der Schorn-Försterschen Ausgabe siehe Dirk Kemper, Litterärhistorie - romantische Utopie - kunstgeschichtliche Poesie: drei Modelle der Renaissancerezeption, in: Romantik und Renaissance, hg. v. Silvio Vietta, Stuttgart / Weimar 1994, 116-139, hier 129-135.
[2] "Ogni pittore dipinge sé". Leonardo da Vinci and "Automimesis", in: Der Künstler über sich in seinem Werk, hg. von Matthias Winner, Weinheim 1992, 137-160.
Marcus Kiefer