Paul Julian Weindling: Epidemics and Genocide in Eastern Europe 1890-1945, Oxford: Oxford University Press 2000, 486 S., 22 s/w-Abb., 3 Karten, ISBN 978-0-19-820691-0, GBP 60,00
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Paul Weindling, Professor an der Universität Oxford, gilt als einer der führenden Forscher zur Medizingeschichte des Dritten Reiches. Für sein neuestes Werk, wieder ein Längsschnitt, hat er eine ungewöhnliche Perspektive gewählt: den Zusammenhang zwischen deutscher Seuchenpolitik seit Ende des 19. Jahrhunderts und dem Massenmord an den osteuropäischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Weindling fügt sich damit in eine neue Forschungsentwicklung ein, die den Kontinuitäten zwischen dem Kolonialismus des späten Kaiserreiches und dem Kontinentalimperialismus Hitlers nachspürt. Konzepte und Wahrnehmungsmuster der Tropenmedizin wurden im 20. Jahrhundert allmählich transformiert und radikalisiert, vereinzelt mit erstaunlichen personellen Kontinuitäten. Der Erste Weltkrieg bildete dafür gleichsam einen Katalysator: Nun fühlte sich der Staat berufen, den erneut ausbrechenden Typhus in den besetzten Teilen Osteuropas zu bekämpfen. Auf der Basis der neuen Erkenntnisse der Bakteriologie glaubte man sowohl durch Grenzsperren gegen osteuropäische Einwanderer als auch durch die Desinfizierung den Seuchenverdächtigen entgegentreten zu müssen. In der Krise der unmittelbaren Nachkriegszeit radikalisierten sich diese Konzepte noch, zudem wurden zunehmend antisemitische Töne hörbar. An Stelle der Tropenmedizin entwickelte sich eine enge medizinische Zusammenarbeit mit dem bolschewistischen Russland; der Verfasser weiß hier von einer erstaunlichen Kooperation bis in den Bereich der Eugenik zu berichten, die - mit Unterbrechungen - bis 1940 andauerte.
Während der Weimarer Republik etablierten sich die Konzepte und Technologien in der Seuchenpolitik, die später eine katastrophale Radikalisierung erfuhren: Nun stand der einstmals von Liberalen dominierten Medizinerschaft eine starke völkische Fraktion gegenüber. Die Seuchenbekämpfung wurde zusehends als sozial, das heißt auf der Rechten: rassistisch interpretiert. Den Seuchenmedizinern trat die chemische Industrie zur Seite, die in den 1920er-Jahren verschiedene Formen des Schädlingsbekämpfungsmittels Zyklon entwickelte.
Im Dritten Reich schließlich setzte sich die völkische Medizinerschaft völlig durch, wichtige deutschnationale Exponenten liefen zur NSDAP über. Zugleich war eine Militarisierung der Medizin zu beobachten, innerhalb deren auch die SS ein eigenes Sanitätswesen aufbaute. Dieser Wandel zeitigte nach der Besetzung Polens die bekannten Folgen: Die osteuropäischen Juden, kollektiv als "Seuchenträger" stigmatisiert, wurden an den Rand ihrer Existenz gedrückt, sodass in den Gettos tatsächlich alsbald Typhus grassierte, also eine self-fulfilling prophecy wirksam wurde. Die Mediziner in den Besatzungsverwaltungen reagierten radikal: Isolierung, gewaltsame Entseuchung und Mord an den Gettoflüchtlingen hießen die Forderungen.
Nachdem die NS-Führung zusammen mit der Gesundheitsverwaltung den Mord an Behinderten vorexerziert hatte, entwickelte die SS 1941/42 allmählich das heute mit dem Namen Auschwitz verbundene Vernichtungssystem: Gaskammern zur Entseuchung von Kleidern mit Zyklon B waren bekannt, sie wurden nun auch zur Ermordung von Menschen gebaut. Monströse Ausmaße nahm dies mit dem Bau großer Krematorien an, was seine Wurzeln in der Feuerbestattungsbewegung der 1920er-Jahre hatte. Aus der Sicht der Täter, der Lagerfunktionäre, der Desinfektoren aus der chemischen Industrie, der Krematoriumsbauer und der zuständigen Mediziner, zeigt sich deutlich die mentale Weiterentwicklung von der Entseuchung hin zur Ermordung. Freilich betrieb man auch die vermeintlich "positive" Bekämpfung des Typhus, die Erforschung von Impfstoffen, mit dem kriminellen Mittel der Menschenversuche. In beeindruckender Weise zeigt Weindling ebenso, wie in Osteuropa diesem Vernichtungsfeldzug verzweifelter Widerstand entgegengesetzt wurde, sei es in den besetzten Städten und ihren Gettos, sei es innerhalb der Konzentrationslager.
Dem Autor, der sich auf die akribische Auswertung von zeitgenössischen Fachzeitschriften, vor allem aber von über 50 Archiven stützt, gelingt es, eine neue Vorgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordes zu präsentieren. Dabei verfällt er nicht in den Fehler, dem von ihm freigelegten Strang monokausale Bedeutung zuzumessen, sondern er integriert seine Ergebnisse sorgfältig in das komplexe Ursachengeflecht des Völkermordes. Damit zeigt er erneut, wie sehr die Transformation bestimmter Politikbereiche und großer Teile der Eliten in Deutschland seit 1914 letztendlich zur Formung des Dritten Reiches beigetragen hat. Eine Gruppe von Medizinern trieb konzeptionell voran, was dann in Zusammenarbeit mit der chemischen Industrie und der SS eine neue Qualität gewann, die vermeintliche Typhusbekämpfung durch Massenmord. Damit nutzten sie skrupellos, die mörderischen Möglichkeiten, die ihnen das Regime bot.
Dieter Pohl