Rezension über:

Martina Sitt / Pieter Biesboer (Hgg.): Jacob van Ruisdael. Die Revolution der Landschaft. Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2002 / Frans Hals Museum, Haarlem 2002, Zwolle: Waanders Uitgevers 2002, 167 S., 55 Farb- u. 80 s/w-Abb., ISBN 978-90-400-9606-8, EUR 32,50
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Rezension von:
Léon Krempel
Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
Empfohlene Zitierweise:
Léon Krempel: Rezension von: Martina Sitt / Pieter Biesboer (Hgg.): Jacob van Ruisdael. Die Revolution der Landschaft. Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2002 / Frans Hals Museum, Haarlem 2002, Zwolle: Waanders Uitgevers 2002, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3195.html


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Martina Sitt / Pieter Biesboer (Hgg.): Jacob van Ruisdael

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Wie die beiden Herausgeber des Kataloges, Martina Sitt und Pieter Biesboer, einleitend erklären, konzentriert sich die Hamburg-Haarlemer Ausstellung auf die Frühzeit des holländischen Malers, Zeichners und Radierers Jacob van Ruisdael (Haarlem 1628/29-1682 Amsterdam). These der Ausstellung ist, dass der junge Maler eine "Revolution" in der Landschaftsmalerei vollzogen habe, indem er von der "idyllischen Landschaftsauffassung" zur "heroisch-dramatischen" (9) übergegangen sei. Die Auswahl der Exponate - von denen nicht alle im Katalog enthalten sind - umfasst neben den Frühwerken Ruisdaels, die Datierungen ab 1646 tragen, auch etliche Werke aus späteren Perioden des Meisters. Diese Unentschiedenheit zwischen einer Beschränkung auf das Frühwerk und einer monografischen Ausstellung verwässert nicht nur das Konzept der Ausstellung, sondern vermittelt auch das falsche Bild, dass der Maler in seinen späteren Jahren nur noch vereinzelt Meisterwerke wie die gezeigte "Mühle von Wijk bei Duurstede" (Amsterdam, Rijksmuseum) geschaffen habe. Ausstellung und Katalog richten den Blick schließlich auch auf das künstlerische Umfeld von Ruisdael, auf mögliche Vorbilder (zum Beispiel Cornelis Vroom) wie auf spätere Nachfolger (Meindert Hobbema, Jan van Kessel). Vermisst werden darunter Beispiele der unmittelbaren Haarlemer Ruisdael-Nachfolge, die geeignet gewesen wären, die These der "Revolution" zu überprüfen (zum Beispiel Roelof van Vries).

Der Katalog enthält fünf Essays deutscher und niederländischer Autoren, den 47 Nummern zählenden Katalogteil mit Bildanalysen von 13 internationalen Autoren, Kurzbiografien der ausgestellten Künstler sowie ein Literaturverzeichnis. Die Vielzahl von Autoren, die jeweils eigene methodische Ansätze verfolgen, erschwert die Beschäftigung mit dem Thema der Ausstellung, das in vielen Beiträgen überhaupt nicht oder nur am Rande zur Sprache kommt.

Der "Haarlemer Kunstszene" wendet sich Pieter Biesboer (13-19) zu. Er skizziert die sozio-ökonomischen Bedingungen der durch Bierbrauerei und Textilwirtschaft zu Wohlstand gelangten Stadt, die seit den 1620er-Jahren einer wachsenden Zahl von einheimischen und zugezogenen Landschaftsmalern ein Auskommen bot, bis zu Beginn der 1650er-Jahre eine Rezession eintrat. Biesboer, der in jahrelanger Arbeit Tausende von Haarlemer Inventaren ausgewertet hat, die jüngst vom Getty Provenance Index in Los Angeles publiziert wurden, präsentiert eine Statistik der am häufigsten in den Inventaren erwähnten Landschaftsmaler. Bemerkenswert daran ist die Zahl von sechs Werken Jacob van Ruisdaels, die nämlich nur einen Bruchteil der Werke Jan van Goyens (72), Pieter de Molijns (63) und Cornelis Vrooms (45) ausmachen. Ungefähr ebenso viele, nämlich sieben Werke kommen von Allart van Everdingen vor, der damit aber noch um ein Vielfaches besser als Jacob van Ruisdael in den Inventaren repräsentiert ist, da er nicht im Entferntesten so produktiv wie dieser war. (Zum Vergleich: In den 2001 erschienenen Monografien von Alice Davies beziehungsweise Seymour Slive werden van Everdingen 179 Werke, Ruisdael 694 Werke zugeschrieben.) Biesboers Erklärung, dass Jacob van Ruisdael 1657 nach Amsterdam gegangen sei, befriedigt nicht, gilt dasselbe doch auch für van Everdingen, der diesen Wechsel schon 1652 vollzog. Allerdings ist das genaue Datum des Umzugs von Ruisdael nach Amsterdam unbekannt. 1657 wird er dort bloß zum ersten Mal erwähnt! Ob Ruisdael in seiner Heimatstadt nicht so erfolgreich war, wie es seine erstaunliche Produktion vermuten lässt? Denkbar erscheint aber auch, dass er bereits während der Haarlemer Jahre einen Großteil seiner Werke über Händler in Amsterdam absetzte. Um diese Fragen zu beantworten, wäre es wünschenswert gewesen, das reichlich vorhandene archivalische Material zur "Haarlemer Kunstszene" ausführlicher vorzustellen und gründlicher auszuwerten als in Biesboers zu kurz geratenem Beitrag.

Huigen Leeflang gibt in "Ruisdaels Natur" (21-27) Hinweise darauf, wie der Haarlemer die ihn umgebende Landschaft sah. Das bekannte, schon von Karel van Mander gezeichnete Bild von Haarlem als der Wiege der Landschaftsmalerei wird so recht erst verständlich, wenn man erfährt, dass die Stadt ergänzend hierzu den Anspruch erhob, über die schönste Lage und Umgebung zu verfügen, womit sie sich besonders gegen die Metropole Amsterdam abgrenzte. Fahrten oder Wanderungen in die Umgebung und das Ersteigen von hohen Dünen als Aussichtspunkten war anscheinend ein verbreitetes Vergnügen. Sicher wäre die Schönheit der Haarlemer Landschaft sonst nicht so häufig in Liederbüchern besungen worden. Der Autor lenkt die Aufmerksamkeit besonders auf eine wenig beachtete Schrift des Jan van Westerhoven, "Der in den Schöpfungen verherrlichte Schöpfer" (erschienen 1685), die von einem religiösen Naturempfinden zeugt, das vermutlich wenigstens in mennonitischen Kreisen, denen van Westerhofen und Ruisdael angehörten, recht verbreitet gewesen ist.

Jeroen Giltaij versucht in "Jacob van Ruisdael, das revolutionäre 'Wunderkind'" (29-35) die staunenswerte Entwicklung des jungen Haarlemers anhand von dessen frühesten datierten Werken aus den Jahren 1646 bis 1649 zu rekonstruieren. Er fasst die Bilder als Bausteine einer logischen Entwicklung auf und meint sie sogar monatsweise datieren zu können, was mir nicht unproblematisch erscheint. Meines Erachtens hat die Ausstellung gerade gezeigt, welche stilistischen und auch qualitativen Diskrepanzen zwischen Werken einer Stilstufe auftreten können, die nicht nur mit einer fortschreitenden Entwicklung erklärt werden können. Worin Ruisdaels "Revolution" bestanden hat, wird in dem Beitrag (wie in der ganzen Ausstellung) nicht ganz verständlich. Die genaue Naturbeobachtung und dramatische Bildregie, die Ruisdael von seinen Vorgängern unterscheidet, bedeuteten zweifellos eine folgenreiche Veränderung für die Landschaftsmalerei. Sie übernahm damit Eigenschaften der in der Hierarchie der Gattungen höher angesiedelten Porträt- und Historienmalerei. Ob man diese "Revolution" nicht richtiger als eine "Emanzipation" beschreibt?

Unter dem etwas rätselhaften Titel "Belichtung der Natur. Zu einer komplementären Deutung der Landschaftsmalerei Jacob van Ruisdaels" (37-48) äußert Martina Sitt die These, dass Ruisdael schon in einem frühen Malstadium, nämlich auf der Grundierung mit Bleiweiß die "Lichtdramaturgie" seiner Gemälde festgelegt habe. Sie meint dies an Röntgenaufnahmen zum Beispiel von der "Landschaft mit Hütte" der Hamburger Kunsthalle (Katalog-Nummer 10) erkennen zu können, in denen sich bleiweißhaltige mit hellen Bildpartien decken. Ihre Interpretation der Befunde halte ich für sehr gewagt. Vor allem ist mir nicht klar, woran Sitt die Schichttiefe von dem Bleiweiß erkennt, das ja auch einer obenliegenden Farbe beigemischt sein kann. Unzulässig ist auch, von dem Nichtnachweis einer Unterzeichnung mit Infrarot auf deren Fehlen zu schließen, da viele Faktoren eine vorhandene Unterzeichnung für Infrarot unsichtbar machen können (zum Beispiel die Verwendung eines nicht kohlenstoffhaltigen Zeichenmaterials oder dicke Farbschichten). Der Beitrag über die Maltechnik des jungen Ruisdael wäre vielleicht am besten gemeinsam von einem Kunsthistoriker und einem Restaurator geschrieben worden.

Die in dem Beitrag von Leeflang aufgeworfene Frage nach dem Bedeutungsgehalt der Landschaften Ruisdaels greift Jochen Becker in "Een heuchelyk vermaak... maar ook een heldre baak. Zu verschiedenen Möglichkeiten, holländische Landschaften zu betrachten" (145-152) noch einmal auf. Mit einer Fülle von kunsthistorischen und zeitgenössischen Zitaten belegt Becker den nicht neuen Sachverhalt, dass sich holländische Landschaftsbilder vielseitig - zum Beispiel emblematisch, theologisch, patriotisch - auslegen lassen. Diese Vieldeutigkeit soll nach Becker einen wirklichen Zweck gehabt haben, nämlich das Gespräch vor dem Bild im Gang zu halten. Die These wird nicht weiter begründet, was doch leicht möglich gewesen wäre, zum Beispiel mit dem Hinweis auf eine Marktstrategie der Maler, die ihre Ikonographie absichtlich offen hielten, um verschiedene Käuferschichten anzusprechen.

Auf die einzelnen Katalognummern näher einzugehen, ist hier nicht möglich. Insgesamt fällt allerdings wieder die Uneinheitlichkeit der Beiträge auf. Bei aller Kritik machen Ausstellung und Katalog doch die Besonderheit und Bedeutung der Landschaftsmalerei von Ruisdael für ein breites Publikum deutlich. Die von Seymour Slives unbekümmertem Positivismus einseitig dominierte Ruisdael-Forschung erfährt hier neue Impulse. Ferner hervorzuheben sind das handliche Format des Kataloges, die ordentliche grafische Gestaltung und die Qualität der Farbabbildungen.


Léon Krempel