Markus Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914-1956 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 12), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 424 S., ISBN 978-3-506-74481-4, EUR 52,00
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Wohl jeder, der sich einmal intensiv mit der Militärgeschichte des Ersten Weltkrieges befasst hat, kennt die vierzehn Bände und zwei Sonderbände des vom Reichsarchiv herausgegebenen Mammutwerkes "Der Weltkrieg 1914 bis 1918", die ein ganzes Brett im Bücherregal für sich beanspruchen. Sie sind das Kernstück der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung nach dem Ersten Weltkrieg, der durch Markus Pöhlmann in Form einer von Stig Förster (Bern) betreuten Dissertation eine umfassende Würdigung zuteil geworden ist. Dieses Thema ist dabei keineswegs nur für die Spezies der Militärhistoriker von Interesse, sondern auch für die Geschichtswissenschaft insgesamt, als deren Teildisziplin sich die Militärgeschichte längst etabliert hat. Insofern ist Pöhlmanns Studie ein Fallbeispiel für die methodischen Wandlungen des Faches. Vor allem aber ist sie ein Exempel für jene "Akten- und Publikationspolitik", ohne die es nur schwerlich eine Geschichtspolitik gibt. Das galt nach dem Ersten nicht weniger als nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere für den Kriegsverlierer Deutschland, musste doch auf die brennenden Fragen der Nachkriegszeit eine Antwort gefunden werden: wie kam es zum Krieg, warum ging er verloren, und wer konnte dafür verantwortlich gemacht werden?
Am Anfang dieser klar strukturierten, flüssig geschriebenen und zum Teil auf neu erschlossenem Quellenmaterial beruhenden Studie stehen Vorüberlegungen zu Thema, Fragestellung und Forschungsstand. Pöhlmann plädiert dabei dafür, den Krieg als den Mittelpunkt militärgeschichtlicher Forschung nicht aus dem Auge zu verlieren. Das erste Hauptkapitel liefert sodann einen Überblick über die Entwicklung der Geschichtsschreibung des preußischen Großen Generalstabs von ihren Anfängen 1816 bis zum Kriegsbeginn 1914. In dieser Zeit war die Militärgeschichte Teil der Kriegswissenschaft, in der Zivilisten oder gar Historiker nichts zu suchen hatten. Das Ziel war es, der Armee ein publizistisches Denkmal zu setzen. Eine selbstkritische Fehleranalyse war dagegen nicht gefragt. Der Anspruch des Deutungsmonopols seitens des Generalstabs ließ sich freilich schon vor dem Weltkrieg nicht mehr vollständig durchsetzen, wie der von Hans Delbrück ausgelöste "Strategiestreit" um die Bewertung der Kriegsführung Friedrichs II. zeigte.
Im zweiten Teil thematisiert Pöhlmann die Auswirkungen des Weltkrieges auf die Kriegsgeschichtsschreibung. Die Realität des ersten "totalen Krieges" machte deutlich, dass die überkommene Konzentration auf die Operationsgeschichte unter weitgehender Ausblendung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eigentlich unhaltbar geworden war. Im "kurzen Winter der Kritik" 1918/1919 wurde durchaus selbstkritisch Bilanz gezogen und auch Ansätze zu einer Neuorientierung in Richtung auf das, was man heute "innere Führung" nennt, waren feststellbar. Schließlich setzte sich aber doch ein anderes Paradigma durch: die Geschichtsschreibung des Weltkrieges wurde als "nationale Aufgabe" definiert. Sie sollte außenpolitisch als Mittel im Kampf gegen "Kriegsschuldlüge" und Versailler Vertrag, innenpolitisch als Propagandainstrument gegen die die Republik tragenden Kräfte fungieren. Da jedoch infolge des Versailler Vertrages der Große Generalstab und mit ihm seine Kriegsgeschichtliche Abteilung zum 1. Oktober 1919 aufgelöst werden musste, bedurfte es eines institutionellen Neuansatzes.
Dieser, Gegenstand des dritten Teils, ist aufs engste mit dem Potsdamer Brauhausberg und dem neu gegründeten Reichsarchiv sowie der "Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres" verbunden. Soweit es irgend möglich war, wurde die Tradition der Kriegsgeschichtsschreibung des Generalstabes fortgeführt, auch wenn die Einbeziehung ziviler Fachhistoriker nicht mehr zu vermeiden war. In der Geschichte des Reichsarchivs spiegelte sich das Werden und Scheitern der Weimarer Republik wieder. Die internen Auseinandersetzungen zwischen zivilen und militärischen Stellen endete mit einem weitgehenden Sieg der "Militärpartei" zulasten der zivilen und republiktreuen Vertreter.
Diese Entwicklung wird auch in den publizistischen Erzeugnissen der deutschen Militärgeschichtsschreibung deutlich. Der amtliche Monopolanspruch auf die Deutung des Weltkriegserlebnisses war angesichts der publizistischen Flutwelle nach 1918 obsolet geworden. Das große "Weltkriegswerk" war aber immerhin noch mit dem Selbstverständnis angetreten, die definitive und "objektive" Darstellung der Schlachten zu bieten. Auffällig ist, dass das vom Bewegungskrieg bestimmte erste Kriegsjahr 1914 rund 40% des Gesamttextes ausmacht. Hier zeigt sich eine Diskrepanz zu der Kriegsbelletristik, in der der monotone Stellungskrieg der Kriegsjahre 1915-1918 das alles beherrschende Thema war. Methodisch wie inhaltlich überwog beim "Weltkriegswerk" die Kontinuität zur alten Kriegsgeschichtsschreibung. In einem Punkt wich sie freilich markant davon ab: die Kritik an einigen Heerführern war doch recht deutlich, vor allem an den ungeliebten Generalstabschefs Moltke und Falkenhayn, während Hindenburg und Ludendorff vergleichsweise pfleglich behandelt wurden. Das Vertun der vermeintlichen Siegeschance zu Kriegsbeginn wurde personalisiert. Durch die Untersuchung anderer Publikationen in verschiedenen Medien gelingt es Pöhlmann jedoch, ein Klischee zu relativieren. Auch die deutschen Niederlagen wurden ausführlich dargestellt und die "Dolchstoßrhetorik" prägte nicht das Gesamtbild. Wer es nur lesen wollte, konnte auch aus der amtlichen und halbamtlichen Kriegsliteratur erfahren, dass Deutschland nicht einem ominösen "Dolchstoß", sondern einer in allen Belangen überlegenen, gegnerischen Koalition erlegen war. Hervorzuheben ist hier vor allem Martin Hobohms höchst umstrittenes Gutachten über die sozialen Missstände im Heer. Es wurde erstellt im Rahmen des Reichstagsuntersuchungsausschusses über die Ursachen der Kriegsniederlage und ist bis heute mit Gewinn zu lesen. Von solchen Ausnahmen abgesehen blieben die angebotenen Deutungsmuster trotzdem anschlussfähig an die NS-Propaganda. Der Weltkrieg wurde als weltgeschichtliches Ereignis dargestellt, das ungeachtet der Niederlage Gruppenerlebnis und Sinnstiftung bot. Am deutlichsten ist dies in der Darstellung der Nachkriegskämpfe deutscher Truppen und Freikorps in Osteuropa. An diesem Punkt scheint die Interpretation des Autors, der die Vereinnahmbarkeit für die revanchistische Geschichtsdeutung der Weimarer Republik eher gering veranschlagt, bestreitbar. Die inhaltliche und methodologische Sackgasse, in die sich die deutsche Kriegsgeschichtsschreibung manövriert hatte, wird schließlich auch daran deutlich, dass die Forschungen zum Ersten Weltkrieg nach 1945, etwa von Gerhard Ritter und Fritz Fischer, die Publikationen aus dem Umfeld des Reichsarchivs ohne Verlust weitgehend ignorieren konnten.
Pöhlmanns Bilanz der Militärgeschichtsschreibung ist fassettenreich. Das Besondere an der deutschen Situation war, dass der "geschichtspolitische Kampf" der amtlichen Historiker einerseits auf der internationalen Ebene für die eigene Nation geführt wurde, andererseits mit Blick auf die Innenpolitik aber oft gegen den eigenen, republikanisch-demokratischen Staat gerichtet war. Eine völlig unkritische Heroisierung im Stil der alten Generalstabsgeschichtsschreibung war dagegen nicht mehr möglich, doch mit der Einbindung von Wirtschaft, Staat, Gesellschaft und Ideologien als kriegsentscheidende Faktoren war diese letztlich auch überfordert. Das Ende der "Generalstabshistorie" nach 1945 ist daher kein Grund, in Trauer zu verfallen.
Christoph Jahr