Joachim Berger (Hg.): Der Musenhof Anna Amalias. Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei im klassischen Weimar, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, 213 S., ISBN 978-3-412-13500-3, EUR 25,50
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Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen ist hervorgegangen aus einer Tagung des Sonderforschungsbereichs "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800", die im Oktober 1999 an der Universität Jena stattgefunden hat. Zwei Aufsätze des Herausgebers ("Geselligkeit, Mäzenatentum und Kunstliebhaberei am 'Musenhof' Anna Amalias", 1-17; ""Tieffurth" oder "Tibur"? Herzogin Anna Amalias Rückzug auf ihren 'Musensitz', 125-164) geben programmatisch Aufschluss über Fragestellung und Erkenntnisinteresse des Projektes. Marcus Ventzke untersucht in seinem Beitrag "Hofökonomie und Mäzenatentum. Der Hof im Geflecht der weimarischen Staatsfinanzen zur Zeit der Regierungsübernahme Herzog Carl Augusts" (19-52) die - eher bescheidenen - finanziellen Verhältnisse des Hauses Sachsen-Weimar-Eisenach und deren Umstrukturierung nach 1775. Der Aufsatz von Sandra Dreise-Beckmann "Anna Amalia und das Musikleben am Weimarer Hof" (53-80) widmet sich den vielfältigen musikalischen Interessen und Aktivitäten der Herzogin und bietet den erstmaligen Abdruck ihrer musiktheoretischen Abhandlung. Bärbel Raschkes Darlegungen zu "Buchbesitz, Lektüre und Geselligkeit" (81-106) Anna Amalias liefern einen wichtigen Beitrag zu den Möglichkeiten und Beschränkungen weiblicher Gelehrsamkeit in der Aufklärung. Heide Hollmer reflektiert in ihrem Beitrag deren "Kunstwahrnehmung und Kunstförderung während der Italienreise" (107-124). Angela Borchert beschäftigt sich in ihrem Aufsatz "Die Entstehung der Musenhofvorstellung aus den Angedenken an Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach" vornehmlich mit dem von Johann Wolfgang von Goethe verfassten Nekrolog auf die Herzogin (165-187).
So vielversprechend eine - längst überfällige - intensive Auseinandersetzung mit einer der neben Wilhelmine von Bayreuth, Henriette Caroline von Hessen-Darmstadt oder Caroline Luise von Baden wichtigeren, künstlerisch und wissenschaftlich engagierten Repräsentantinnen eines aufgeklärten Absolutismus an deutschen Höfen sein könnte, so enttäuschend sind letztendlich die wissenschaftlichen Erträge eines Forschungsprojektes, das - um hier gleich den Haupteinwand zu formulieren - nahezu keinerlei Vorstellungen über das kritische Potenzial, die methodischen Reflexionen und die inzwischen weit ausdifferenzierten theoretischen Ansätze der nunmehr seit zirka 30 Jahren bestehenden Frauen- und Genderforschung besitzt. Ein Indiz dafür: Von den zahlreichen Publikationen, die die folgenschweren Umbrüche und Neudefinitionen der Geschlechterkonstruktionen im 18. Jahrhundert behandeln, findet sich im Literaturverzeichnis neben ein paar Aufsätzen zu Detailfragen einzig und allein Lieselotte Steinbrügges "Das moralische Geschlecht" von 1992.
Erklärtermaßen soll eine Revision eines übertrieben positiven Bildes der Herzogin und ihrer diversen kulturellen Aktivitäten vorgenommen werden. Insbesondere die Rede vom Musenhof oder Musensitz, mit dem zu Lebzeiten ihr Landsitz Tiefurt gemeint war, sei eine spätere Legendenbildung, ein Mythos, den es zu hinterfragen gelte, ja sogar eine Ideologie, die von einem falschen Bewusstsein zeuge (129, 164). Wenn nun aber nicht etwa "nur" die sicherlich verklärenden älteren Darstellungen gemeint sind, sondern umstandslos neuere und neueste Publikationen dazugezählt werden, so ist dem kritischen Aufklärungswillen zu misstrauen. Was genau der Mythos besagt, bleibt nämlich durchaus unklar. Es drängt sich daher der Verdacht auf, dass ein postulierter Idealtypus eines "Musenhofes" für den "Gesamthof Weimar" generell in Frage gestellt werden soll, um die Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen der Protagonistin vor dem Hintergrund einer beginnenden Professionalisierung der Kunstproduktion relativierend einzuschränken, sie zur "Ersatzhandlung" zu deklarieren und den resignierten "Rückzug" im Alter als Beleg für zunehmende Bedeutungslosigkeit zu interpretieren. Ist Anna Amalia damit von der "Begründerin" oder "Wegbereiterin" der Weimarer Klassik zum ärgerlichen Störfaktor des (Männer-) Ereignisses "Weimar-Jena" geworden?
Wenn es denn darum gegangen sein sollte, die im 19. und 20. Jahrhundert auch nationalistisch motivierten Panegyriken und entpolitisierenden Idyllisierungen der Herzogin und ihres Umfeldes einer kritischen Sichtung zu unterziehen, so fällt eine merkwürdige Auslassung auf: An keiner Stelle erfährt man etwas über eine spezifisch deutsche Rezeptionstradition, die das "Ereignis Weimar-Buchenwald" miterklären könnte. Abgesehen von der einzigen Abbildung des Buches, die auf dem Umschlag ein farbenfroh-kitschiges Historiengemälde "Teestunde bei Herzogin Anna Amalia im Wittumspalais" von 1931 präsentiert, auf dem die Frauen (Anna Amalia im Hintergrund als ältliches Tantchen im Kreise ihrer Hofdamen) zur hübschen Rokoko-Dekoration und die Männer zu wichtig dreinschauenden (Goethes Auge!) Handlungsträgern geworden sind.
Welche Konsequenzen hat das Fehlen jeglichen Genderbewusstseins im Einzelnen für die wissenschaftlichen Ergebnisse der Studie? Nur einige Beispiele:
Es macht wohl wenig Sinn, die Italien-Reise der 50jährigen mit einer "Grand Tour", dem Initiationsritual junger männlicher Adliger, zu vergleichen (116). Hier hätten Hinweise auf andere reisende und darüber schreibende Frauen - mittlerweile gut erforscht - mehr Aufschluss erbringen können.
Die ökonomischen Verhältnisse eines Hofes zu untersuchen, ist gewiss verdienstvoll und ein Forschungsdesiderat, doch geht aus den minuziösen Darlegungen Venzkes leider nicht hervor, inwiefern sich die Finanzpolitik Anna Amalias von der ihres Sohnes möglicherweise unterschieden hat. Bekannt ist etwa ihre militärkritische Position gegenüber den männlichen Verwandten, nicht zuletzt ihrem Onkel Friedrich II.
Die Auseinandersetzung Anna Amalias mit den seinerzeit virulenten Geschlechterdebatten (nicht nur, dass sie sich mit den zeitgenössischen Theorien befasste, sie schrieb auch einen eigenen Traktat über das Verhältnis der Geschlechter) wird lediglich in dem Beitrag von Bärbel Raschke knapp angesprochen (95-105). Gerne würde die Leserin mehr erfahren, als dass das Männerbild der Herzogin "misandrisch" gewesen sei oder sie in ihren Geselligkeiten "androgyne" Zirkel (gemeint sind wohl gemischtgeschlechtliche unter egalitärem Vorzeichen) bevorzugte. Gleichwohl ist das Vorgehen, aus Lektüreexzerpten den politisch-intellektuellen Horizont der Namensgeberin der Anna-Amalia-Bibliothek zu rekonstruieren, zukunftsweisend.
Zum Kunstverständnis: Muss Anna Amalia heute wirklich noch verübelt werden, dass sie Goethes Ankaufsvorschlägen nicht immer folgte, oder dass sie sich bei den Ausführungen eines Archäologie-Professors langweilte und stattdessen lieber eine Übung vor Originalen, ihre eigene Vasensammlung einbeziehend, gehabt hätte?
Die Rede vom "Musenhof" wird als zunehmend brüchiger werdende "Sinnkonstruktion" aufgefasst, die sich die Beteiligten - quasi in Verkennung der Sinnlosigkeit ihrer eigenen Existenz - selbst zugeschrieben hätten. Meine These lautet dagegen, dass sie sich die Rollen der Musen aneigneten, weniger um die Inspiration von zukünftigen "Genies" zu bewerkstelligen, als vielmehr um ihre eigene gesellschaftliche, literarische, wissenschaftliche und künstlerische Praxis mythologisch-allegorisch zu umschreiben, in Ermangelung anderer "sinngebender" Einbindungen, wie etwa ihrer Anerkennung in Institutionen und Akademien. Angelika Kauffmanns Identifizierung als Muse der Malerei oder die gleichzeitig in England gefeierten Künstlerinnen und Forscherinnen, die in einem merkwürdigen Gemälde als "The Nine Living Muses of Great Britain" um eine seltsam verblasste Apollo-Figur gruppiert sind, verweisen in diese Richtung. Anstatt also gebetsmühlenartig immerzu einen weiblich konnotierten Dilettantismus gegen männliche Professionalität auszuspielen, könnte es für eine noch ausstehende Auseinandersetzung mit Anna Amalias Wirken produktiver sein, einen ohnehin längst überholten klassischen Kunstbegriff aufzugeben, um mit Vorstellungen von Performanz, interaktiver Kunst, einer Schreibpraxis jenseits der Funktion "Autor", wie sie im "Tiefurter Journal" verwirklicht worden ist, den künstlerischen Ereignissen näher zu kommen. Und damit auch den menschlichen. Während etwa der gute alte Geschichtenerzähler Wilhelm Bode noch durchaus freundlich und voller Verständnis von den "emancipierten" Damen zu berichten wusste, für die der Weimarer Hof eine große Anziehungskraft besessen habe, so ist eine Aufmerksamkeit für das Miteinanderleben von Frauen außerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie offensichtlich verloren gegangen. Die Rolle der Hofdame etwa ist noch weitgehend unerforscht. Foucaults "Freundschaft als Lebensweise" und die Untersuchung weiblicher Bündnisse im 18. Jahrhundert könnten daher auch im Falle Anna Amalias interessantere Denkanstöße zur notorischen Musen-Assoziation bieten.
Als Fazit bleibt festzuhalten: Der Band bietet eine Fülle von akribisch recherchiertem Material, doch ohne feministische Perspektiven werden hier die - meines Erachtens wesentlich fataleren, siehe Titelbild - Mythen von männlicher Autorschaft und dem Ausschluss des Weiblichen aus der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts ungebrochen fortgeschrieben.
Annegret Friedrich