Veit Elm: Die Moderne und der Kirchenstaat. Aufklärung und römisch-katholische Staatlichkeit im Urteil der Geschichtsschreibung vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne, Berlin: Duncker & Humblot 2001, ISBN 978-3-428-10344-7, EUR 74,00
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Die anzuzeigende,1998 an der Freien Universität Berlin angenommene Dissertation verfolgt die historiographische Beurteilung der Reformfähigkeit und des Modernisierungsgrades des Kirchenstaates im 18. Jahrhundert. Diese konkrete Frage dient der Beantwortung einer höchst abstrakten Fragestellung: nämlich der nach dem Verhältnis von Politik, Ideologie, Religion und Geschichtswissenschaft.
In der Einleitung behandelt Veit Elm die ideengeschichtlichen Grundlagen seiner Untersuchung: Er spitzt sie auf die in der modernen Wissenschaft überaus erfolgreiche Fortuna der Modernisierungstheorie und ihre Anwendung auf das Phänomen der Religion zu. Für weite Teile der Historiographie war und ist die Modernisierungstheorie unbestrittenes Interpretament, ein so weit in das allgemeine Bewusstsein abgesunkenes Theorem, dass es nur in den seltensten Fällen explizit benannt und kritisch hinterfragt wurde. Selbst in der kritischen Auseinandersetzung mit ihr und in ihrer Ablehnung durch beispielsweise mikrohistorische Ansätze bewies diese Theorie ihre Wirkmächtigkeit. Dies gilt wahrscheinlich in noch höherem Maße für andere Geisteswissenschaften, wie zum Beispiel die Philosophie oder die Philologien, in denen "Modernisierung" ganz selbstverständlich als movens gedeutet wird.
Der Exposition folgt eine doppelte Durchführung; die beiden Teile unterscheiden sich allein hinsichtlich des Umfangs und der Fußnotendichte erheblich. Im ersten Teil, "Moderne Geschichtsschreibung und moderne Politik", werden, mit einem ganz überwiegenden Schwerpunkt auf der italienischen Geschichtswissenschaft, von Montesquieu bis Nicola La Marca, Historiker beziehungsweise deren Werke auf das Thema Aufklärung und Reform im Staat der Päpste untersucht, dies immer wieder in der Konfrontation mit Musterschülern der europäischen Aufklärung, wie beispielsweise die Toskana der Habsburger gern begriffen wird. Elm organisiert diese historiographische tour de force sowohl chronologisch als auch systematisch: Die im Einzelnen diskutierten Studien sind mehr oder weniger nach der Folge ihres Erscheinens angeordnet, zugleich werden sie zeittypischen politischen und intellektuellen Strömungen zugewiesen. Die von Elm benannten Kategorien sind Aufklärung und Protestantismus, Risorgimento, Liberalismus und Faschismus und schließlich Christdemokratie und Kommunismus. Diese zum Teil sehr verschiedenen Bereichen zuzuordnenden Elemente einer modernen Weltsicht verschränkten sich wechselseitig; sie bestimmten das Urteil über das Verhältnis von Kirchenstaat und Moderne in hohem Maße, dies teilweise unabhängig von den Ergebnissen von Detailuntersuchungen.
Der zweite Hauptteil der zu besprechenden Dissertation verlässt den chronologischen und primär politikgeschichtlich bestimmten Rahmen, um die vorgestellten Werke mit Hilfe eines narratologischen Modells zu systematisieren. In diesem relativ knapp gehaltenen und anmerkungsarmen Abschnitt werden Affinitäten zwischen zeitlich und politisch-ideologisch weit entfernten Texten konstatiert, die durch die Verwendung gleicher Erzählmodelle generiert sind. Die Analyse der Rollen, die Wissenschaft, Religion, Vernunft, Staat und Gesellschaft in den verschiedenen Erzählungen über die Geschichte des Kirchenstaates spielen, führt Elm zu einer Dreiteilung seines Stoffes: Er identifiziert eine Fortschrittsgeschichte, die von der Auseinandersetzung zwischen Rationalisten, Katholiken und Protestanten bestimmt war; Erzählformen, die durch kontrastierende Vorstellungen vom Staat als zu überwindendes Element der Modernisierung oder vom Staat als Träger der Modernisierung zu differenzieren sind; schließlich Texte, deren Fokus auf dem Dualismus von Staat und Gesellschaft liegt und deren Autoren von Elm als "Etatisten" bezeichnet werden.
Das so genannte protestantisch-liberale Fortschrittsmodell ordnet Veit Elm in die Erzähltradition des Alten Testaments ein, die Identifizierung von Fortschritt mit der Annäherung des Gemeinwesens an einen messianischen Idealstaat. Die ekklesiologische Fortschrittsgeschichte identifiziert er als Fortschreibung der neutestamentlichen Geschichtsauffassung, die auf eine von der Kulturgemeinschaft getragene Überwindung des Staates zielt. Die etatistische Sichtweise wird als Produkt des antiken Mythos von Kosmos und Chaos, vom Gegensatz zwischen konstruktiver Vernunft und zerstörerischer Leidenschaft gedeutet. Damit scheint die Grenze zwischen vormoderner Erzählung und moderner wissenschaftlicher Geschichtsschreibung nicht mehr durch den Unterschied von "Mythos" und "Logos" beschreibbar. Die Arbeit endet denn auch konsequent mit einem Plädoyer für kritische Selbsterkenntnis und Reflexion der Historiographie hinsichtlich ihrer mythischen Qualität.
Die kritische Auseinandersetzung mit Verlaufsmodellen gehört in den Kontext der zurzeit lebhaft geführten Debatte zwischen Sozial- und Kulturhistorikern. Gerade der Umgang mit Prozessen und die Rolle der Geschichtswissenschaft für ihre Erklärung ist ein zentrales Thema der Selbstbestimmung des Faches; ganz fraglos ist hierfür eine explizite Auseinandersetzung mit der Modernisierungstheorie und ein Aufspüren ihrer Implikationen in den mit Interpretationshoheit ausgestatteten Werken der modernen Geschichte vonnöten. Es ist ein besonderes Verdienst Veit Elms, in diesem Rahmen auf Italien zu verweisen, dessen Historiographiegeschichte er einem deutschen Publikum überaus kenntnisreich näher bringt.
Christian Wieland