Veit Elm (Hg.): Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert. Geschichte, Enzyklopädik, Literatur, Berlin: Akademie Verlag 2010, 226 S., ISBN 978-3-05-004934-2, EUR 49,80
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Der von Veit Elm herausgegebene Sammelband positioniert sich innerhalb einer erweiterten Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zur Frühen Neuzeit, welche die von den naturwissenschaftlichen Errungenschaften des 17. Jahrhunderts eingeleiteten Transformationsprozesse der Wissensordnung als "wissenschaftliche Revolutionen" interpretieren. Hervorgegangen ist der Band, der literaturhistorische und geschichtsphilosophische Blickwinkel auf "die Auswirkungen der neuen Wissenschaften auf den Status der Erzählung" (8) präsentiert, aus einer Potsdamer Tagung des Jahres 2007 ("Geschichten vom Wissen: Narrative Wissensvermittlung in der französischen und deutschen Aufklärung"). In der knappen Einleitung formuliert der Herausgeber die Perspektivwahl als einen Beitrag zu einer "Geschichte der Erzählung" (15), die die "Verwissenschaftlichung der historischen, literarischen und naturwissenschaftlichen Erzählung als Resultat von Transfers" versteht (16), und auf eben diese Transferprozesse ihr Augenmerk richtet.
Eröffnet wird der Band durch drei von Johannes Rohbeck, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Peter-André Alt verfasste Beiträge, die unter dem Abschnittstitel "Wissenschaftliche Geschichte" stehend, unterschiedliche historiographische Tendenzen, Entwicklungen und Richtungen des 18. Jahrhunderts diskutieren. Welche Funktionen die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb der Historiographie einnehmen bzw. welche Strahlkräfte jener wissenschaftshistorische Prozess im 18. Jahrhundert auf die Historiographen entwickelte, wird unterschiedlich beantwortet. Während Rohbeck die teleologische Ausrichtung von Geschichtsschreibung als "narrative Funktion" interpretiert, die in den naturwissenschaftlichen Neukonstruktierungen von "wahren" Wissenssystemen gründet und deshalb Folgen von divergenten Interpretationen darstellungsfähig macht, nimmt Schmidt-Biggemann eine konträre Position ein. Für ihn ist historiographisches Erzählen im 18. Jahrhundert nicht eine reine Ereignisverwaltung, sondern vielmehr ein "Akt der Zeitigung" (40), der das Vergangene inszeniert und somit notwendig mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende versieht. Sinn erhalte nach Schmidt-Biggemann das historiographische Erzählen erst durch den erzählenden Sinn vom Ende her.
Im zweiten Abschnitt "Enzyklopädik" beschäftigen sich Sebastian Neumeister, Claudia Albert und Peter Brockmeier mit einer charakteristisch frühneuzeitlichen Form der Wissensorganisation, der enzyklopädischen Praxis und Theorie. Die Enzyklopädik, also das Streben nach einer Sammlung, Ordnung und Systematisierung von Wissen in idealiter totalen und ganzheitlichen Ansätzen, wird von den drei Autoren als eine Antwort auf die Relativierung absoluter konfessioneller Wahrheit in der Frühen Neuzeit bewertet. Das geordnete Auflisten und Sammeln, welches verstärkt seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in Europa eine Sehnsucht nach Nachschlagewerken auf Verfasser- und Rezipientenebene entfachte, erscheint in diesem Licht als Auseinandersetzung mit den Perspektivweitungen, die durch die zeitgenössischen wissenschaftlichen Fortschritte hervorgerufen worden sind. Scientistische Kritik im Gewand von Pyrrhonismus oder Kartesianismus ermöglichten so das Entstehen von neuen Erzählmustern, -strukturen und -optionen, die ebenfalls mit absolutem Wahrheitsanspruch belegt werden konnten. Sebastian Neumeister umreißt am Beispiel von Pierre Bayle, wie profane Anekdoten und Details in dem von ihm herausgegebenen "Dictionnaire historique et critique" (1696) zu Miniaturgeschichten konstruiert wurden, die in ihrer Multiplizierung die Unmöglichkeit und Absurdität von Großerzählungen (mit Wahrheitsanspruch) per se ausdrücken sollten. Auf diesem interpretatorischen Pfad folgt Claudia Albert den Überlegungen Neumeisters, wenn sie am Beispiel von "Diderots Wissenschaftspoetik" die Strategie einzelner Enzyklopädik-Initiatoren aufzeigt, durch ein gewolltes Überangebot an Verweisen dem Rezipienten wortwörtlich vor Augen zu führen, dass ungeahnte Zusammenhänge stets existieren, und folglich eine göttliche Mustererzählung auch nicht stringent sein könne. Generell vermisst man in diesem Abschnitt Ausführungen zu den Praktiken der Wissensordnung in Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts. Das "re-ordering" von Informationsdetails, welches ein zeitgenössischer Verfasser in intertextueller Praxis aus Journalen, Zeitungsperiodika, Chroniken und etwa Flugpublizistik kompilierte, wird leider in den Beiträgen völlig ausgeblendet. Viele der enzyklopädischen Projekte wurden jedoch von Akteuren betrieben, die parallel auch Romane schrieben, Journale füllten und Korrespondenzen innerhalb der république des lettres führten. Zuletzt soll noch erwähnt sein, dass die Lukrativität von enzyklopädischen Werken ein kaum weniger bedeutsamer Faktor neben dem Antrieb neue Wissenschaftserzählungen zu verfassen darstellte. Eine Anbindung der ökonomischen Marktorientierung der enzyklopädischen Publizistikprodukte an deren inhaltliche und programmatische Ausrichtung verbleibt so noch Desiderat.
Der abschließende dritte Abschnitt "Literatur" ist sehr weit konzipiert und enthält vier Abhandlungen von Veit Elm, Helmut Pfeiffer, Torsten König und Yann Lafon. In jeweils autorengebundenen Betrachtungen, u.a. zu Fontenelle, Voltaire, Rosseaux und Diderot, werden die sich vollziehenden Konstituierungsprozesse der neuen scientistischen "Geschichten des Wissens" begutachtet. Obwohl hierbei explizit das Themenfeld der Debattierung von berechtigten und unberechtigen Wissenschaftsansprüchen angeschnitten wird, kommen die vier Beiträge weitestgehend ohne eine Skizzierung des zeitgenössisch sich herausschälenden und neudefinierenden Typus des Polyhistors oder Universalgelehrten aus. So kann beispielsweise Torsten König ausführen, dass bei Bernardin de Saint-Pierres "Études de la nature" (1784) grundlegend angestrebt wurde, die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auch gesamtheitlich in einer wissenschaftlichen Erzählung erfassen zu können, doch wird die Praxis des zeitgenössischen Wissenschaftverfassers kaum reflektiert und beleuchtet. Die Spezialisierung der Fachgebiete und Deutungsoptionen, die dem wissenschaftlich Verfassenden im 18. Jahrhundert einerseits Horizonte öffnete, andererseits aber auch die Fachexpertise erschwerte, formte nämlich den Typus des Polyhistors in besonderem Maße. Ohne das in enzyklopädischen Nachschlagewerken bereitgestellte Orientierungswissen war Fachexpertise und prätendierte Deutungskompetenz nämlich nach der sogenannten wissenschaftlichen Revolution der Frühen Neuzeit kaum mehr möglich - der erzählende Wissenschaftler produzierte im "Jahrhundert der Nachschlagewerke" nicht nur eben diese, sondern war auch in seiner Kernfunktion als Erzähler auf eben diese nahezu essentiell angewiesen. Ein weiteres Manko dieses Abschnittes ist es, dass nicht auf den Faktor der Verfügbarkeit der zumeist gedruckten "Literatur" hingewiesen wird; ohne die europäischen Buchhandelsnetzwerke saß der Gelehrte sprichwörtlich auf dem Trockenen. Das Entstehen von neuem Wissen war im 18. Jahrhundert auch maßgeblich von den Leistungen eines sich transformierenden Buchhandelsmarktes abhängig.
Insgesamt ist der Sammelband anregend und wird innerhalb der historischen Wissens- und Wissenschaftsforschungen auch zu Resonanzen führen. Die erwähnten Perspektivverengungen resultieren großteils aufgrund des Ausklammerns von kommunikations-, publizistik- und medienhistorischen Forschungsergebnissen. Denn trotz der Erwähnung, dass man sich interdisziplinär dem Themenfeld nähern wolle, sind acht der zehn Beiträger Literaturwissenschaftler.
Daniel Bellingradt