Jörg Fisch: Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850-1914 (= Handbuch der Geschichte Europas; Bd. 8), Stuttgart: UTB 2002, 504 S., ISBN 978-3-8252-2290-1, EUR 24,90
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Manfred Görtemaker: Geschichte Europas 1850-1918, Stuttgart: W. Kohlhammer 2002, 298 S., ISBN 978-3-17-014446-0, EUR 24,00
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Gabriele D'Ottavio: L'Europa dei tedeschi. La Repubblica Federale di Germania e l'integrazione europea, 1949-1966, Bologna: il Mulino 2012
Morten Rasmussen / Ann-Christina Lauring-Knudsen (eds.): The Road to a United Europe. Interpretations of the Process of European Integration, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2009
Michael Sutton: France and the Construction of Europe, 1944-2007. The Geopolitical Imperative, New York / Oxford: Berghahn Books 2011
Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München: C.H.Beck 2010
Manfred Görtemaker / Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München: C.H.Beck 2016
Jörg Fisch (Hg.): Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, München: Oldenbourg 2011
Handbuchartige Überblicksdarstellungen zu einzelnen Epochen der Geschichte rechtfertigen sich auch dadurch, dass sie neuere Forschungsergebnisse über Einzelprobleme der Epoche bilanzieren, bewerten und zusammenfassen. Beide hier zur Rezension vorliegenden Werke treten auch mit diesem Anspruch an; beide sind Einzelbände epochenübergreifend angelegter Reihen. Das von Peter Blickle bei UTB herausgegebene Handbuch der Geschichte Europas deckt in zehn Bänden den Zeitraum von der Antike bis ins Jahr 1990 ab, die vom Kohlhammer-Verlag herausgegebene Reihe "Geschichte Europas" beginnt erst in der Frühen Neuzeit. Beide Bände reflektieren die Strömungen der Geschichtswissenschaften der vergangenen fünfzehn Jahre.
Zunächst fällt auf, dass Europa als Kontinent zunehmend die Nationalstaaten als Bezugsrahmen epochenübergreifender historischer Darstellungen ablöst. Die Geschichtsschreibung, die in ihrer Tradition nationalstaatlich und nicht kontinental fundiert ist, folgt seit dem von Theodor Schieder vor nahezu dreißig Jahren begonnenen monumentalen "Handbuch der europäischen Geschichte" zunehmend der nach dem Zweiten Weltkrieg eingeleiteten wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas, indem sie auch die historische Dimension der Nationalstaaten nicht mehr isoliert betrachtet, sondern in einen weiteren geografischen, aber auch thematischen Kontext einbettet.
Eine geradezu rasante Ausweitung erfuhr die Geschichtsschreibung seit den Achtzigerjahren allerdings nicht nur im geografischen Sinne, sondern auch hinsichtlich ihrer Fragestellungen und - hieraus abgeleitet - ihrer Methoden. War das Werk von Theodor Schieder noch auf rein politische Fragestellungen beschränkt (der äquivalente Band heißt "Staatensystem als Vormacht der Welt"), eingeteilt in Außen- und Innenpolitik, so präsentieren Görtemaker und Fisch die Epoche gleichberechtigt aus der Sicht der Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Am Rande erwähnt vor allem Jörg Fisch auch kulturhistorische Erträge der Forschung sowie die Ergebnisse der 'gender studies'. Beide Autoren sind allerdings vom Primat der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte gegenüber den anderen Teildisziplinen überzeugt. Beide zeigen auch die inzwischen von der Forschung herausgearbeitete, untrennbare wechselseitige Verknüpfung von Politik- und Sozialgeschichte, jener beiden Disziplinen also, die sich in den Siebzigerjahren noch unversöhnlich gegenüberzustehen schienen.
Unterschiedlich sind beide Handbücher vor allem hinsichtlich ihrer Struktur: Das Werk von Manfred Görtemaker ist narrativ angelegt. In sechs Großkapiteln, untergliedert in jeweils drei Unterkapitel, werden die Situation nach der Revolution von 1848/49, die nationale Frage in Italien und Deutschland, der "liberale Westen", der "konservative Osten", Grundzüge von Wirtschaft und Gesellschaft Europas und der Weg in den Ersten Weltkrieg geschildert.
Das Handbuch von Jörg Fisch dagegen ist gemäß der Gesamtkonzeption der Reihe in Großkapitel über den "Charakter der Epoche", die "souveränen Staaten" (mit zwanzig Unterkapiteln, die auch die kleineren Länder wie Serbien, Luxemburg oder Dänemark berücksichtigen), die "Lebensbereiche" (Wirtschaft und Gesellschaft, Staat und Politik, Religion und Kultur) sowie Forschungsüberblick und Literaturverzeichnis gegliedert.
Beide Autoren versuchen den Charakter der Epoche in Schlagworten zu erfassen. Wachstum und Gleichheit sind für Jörg Fisch die Schlüsselbegriffe der europäischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wachstum spielt hierbei auf die im Vergleich zu vorangehenden Epochen geradezu explosionsartig verlaufende wirtschaftliche Expansion Europas durch die industrielle Revolution und die allgemeine Liberalisierung des Handels vor allem in den sechziger und Siebzigerjahren an. Mit dem Begriff der Gleichheit ist er bemüht, die sukzessive Einbindung immer weiterer Bevölkerungsschichten in die politischen Entscheidungsprozesse im Rahmen von Demokratisierung und Parlamentarisierung einerseits, die Anfänge rechtlicher Gleichstellung zum Beispiel der Geschlechter andererseits zu erfassen.
Manfred Görtemaker hingegen differenziert strukturierend zwischen dem "liberalen Westen" des Kontinents und dem "konservativen Osten", wobei das Deutsche Reich neben Österreich-Ungarn und Russland letzterem zugeschlagen wird. Das Urteil ist zumindest diskussionswürdig: Der Autor verweist auf das "Versagen der Liberalen" in Deutschland (164), denen es trotz verschiedener Anläufe nicht gelungen sei, einen "westlichen" Verfassungsstaat zu begründen, und die letztlich vor Bismarck kapituliert hätten. Dies entspricht der älteren, von Friedrich Sell 1953 vertretenen These; neuere Forschungen (Ansgar Lauterbach) haben jedoch gezeigt, dass die deutschen Liberalen erheblich auf die Ausgestaltung des Deutschen Reiches nach 1867/71 eingewirkt haben, insgesamt wird ihnen heute eine "imponierende Reformpolitik im Reichstag" (Hans-Ulrich Wehler) zugebilligt. Insofern ist es zu einfach, das Reich als dem konservativen Osten zugehörig zu beschreiben. Ähnlich wie Fisch beschreibt auch Görtemaker die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Kontinents unter den Schlagwörtern "Modernisierung und Globalisierung".
Beide Autoren räumen der diplomatischen Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges breiten Raum in ihrer Darstellung ein, kommen aber zu unterschiedlichen Ergebnissen: Fisch betont, dass der Kriegsausbruch 1914 "nicht einfach die mehr oder weniger logische Folge aus der europäischen Politik der vorangegangenen Jahrzehnte war", sondern sich aus der "spezifischen und einmaligen Situation" des Sommers 1914 ergab (356). Dagegen hält Görtemaker fest, dass das europäische Mächtesystem schon "frühzeitig auf eine Bahn [geriet], die mit großer Folgerichtigkeit in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts endete" (10). Dabei hat die Forschung der letzten Jahre gerade in Bezug auf den Ersten Weltkrieg immer wieder betont, dass der Krieg nicht unvermeidlich war, bis zuletzt gab es Möglichkeiten, die Katastrophe zu verhindern, allein sie wurden nicht genutzt.
Nicht nur in dieser Frage, sondern insgesamt ist die Darstellung von Jörg Fisch detaillierter, ausgewogener und aktueller hinsichtlich des Forschungsstandes. Das liegt nicht allein daran, dass sein Buch umfangreicher ist, der Band enthält zudem zu allen behandelten Themen einen knappen Forschungsüberblick, während Görtemaker nicht immer auf dem Stand der neuesten Forschung schreibt. Der Band von Fisch eignet sich zudem dank einer durchdachten und detaillierten Gliederung in Kurzkapitel wesentlich besser als Nachschlagewerk, obwohl er natürlich auch ganz gelesen werden kann. Angesichts des nahezu identischen Preises sind Studierende der Anfangssemester, an die sich beide Publikationen wenden, daher mit dem Buch von Jörg Fisch besser bedient.
Guido Thiemeyer