Bernard Wiaderny: Der Polnische Untergrundstaat und der deutsche Widerstand 1939-1944 (= Akademische Abhandlungen zur Geschichte), Berlin: Verlag für Wissenschaft und Forschung 2002, 280 S., ISBN 978-3-89700-348-4, EUR 34,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die vorliegende, aus einer Dissertation an der Freien Universität Berlin hervorgegangene Arbeit versucht, für die Zeit des Zweiten Weltkrieges erstmals systematisch das Verhältnis zwischen deutschen Gegnern des NS-Terrorregimes einerseits sowie Kreisen der polnischen Emigration und des Untergrunds andererseits zu untersuchen. Nach einem längeren einleitenden Kapitel über wesentliche Strukturen und Mentalitäten im polnischen Untergrundstaat analysiert der Verfasser in vier weiteren, etwa gleichlangen Abschnitten Berührungspunkte einiger "Hitler-Gegner" und polnischer Persönlichkeiten, das im polnischen Untergrund erstellte Bild von der deutschen Gesellschaft, die an Deutsche gerichtete polnische Diversions-Propaganda sowie schließlich die Bewertung des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 durch den polnischen Untergrund.
Bernard Wiaderny geht dabei von einem sehr weit gefassten Widerstands-Begriff aus. So gerät auf deutscher Seite eine Gruppe von Personen in sein Blickfeld, die im allgemeinen nicht oder bloß am Rande dem Widerstand gegen das NS-Regime zugerechnet werden, nämlich die vormals in Warschau tätigen Diplomaten Hans Adolf von Moltke, John von Wühlisch und Rudolf von Scheliha. Ob ihre Missbilligung der destruktiven Doktrinen der deutschen Polenpolitik seit März 1939, ihre Abscheu über deren Konsequenzen, ihr Bemühen um Milderung und ihre Suche nach Alternativen hinreichen, die Genannten als "Verschwörer" (122) zu bezeichnen, erscheint zweifelhaft. Jedenfalls hatten diese konservativen "Hitler-Gegner" (80) keine Skrupel, von 1933 bis 1939 an Hitlers antisowjetisch motivierter Zusammenarbeit mit dem polnischen Regime mitzuwirken. Und auf eben dieser Basis, dem gemeinsamen Antisowjetismus, suchten sie auch nach 1939 mit polnischen Politikern im Gespräch zu bleiben, wobei sie diffuse Vorstellungen von polnischer Autonomie unter deutscher Vorherrschaft entwickelten. Der Autor zeigt auf, dass einige nicht unbedeutende polnische Emigranten national-konservativer Orientierung - teils aus dem Lager der früheren Machthaber, teils kaltgestellte Vertreter der früheren Opposition - gleich nach der Niederlage Frankreichs mit einem ähnlichen Konzept zur Wiederaufnahme der deutsch-polnischen Zusammenarbeit an das NS-Regime herantraten. [1] Derartige, beiderseits noch mehrmals vorgetragene Gedanken stießen jedoch bei den maßgeblichen Kräften auf deutscher wie auf polnischer Seite stets auf strikte Ablehnung.
Im folgenden Kapitel stellt der Verfasser fest, dass die im polnischen Untergrund unter anderem auf der Grundlage abgefangener Privatbriefe erstellten Analysen über die Haltung der deutschen Gesellschaft zum NS-Regime den Anteil der Anhänger des Nationalsozialismus mit etwa 10-15% der Bevölkerung sehr niedrig ansetzten. Die wesentlichen Gründe, warum die Deutschen in ihrer großen Mehrheit dem Hitler-Regime trotzdem folgten, sahen sie in der Furcht vor Strafe für die während des Krieges begangenen Verbrechen, im Terror des Regimes gegen die eigene Bevölkerung sowie in den kräftezehrenden und abstumpfenden Strapazen des Kriegsalltags, aber auch in gemeinsamen Feindbildern. Eine an die Besatzer gerichtete, als deutsche Untergrundschriften getarnte polnische Diversions-Propaganda stilisierte deshalb einzelne populäre Personen aus der Führungsriege des Regimes zu angeblichen Hitler-Gegnern, die den Terror ablehnten und einen Sonderfrieden mit den Westmächten anstrebten. Dass die dabei ausgegebene Parole "Frieden im Westen - Sieg im Osten" insgeheim Wunschdenken der den Vormarsch sowjetischer Truppen mit gemischten Gefühlen beobachtenden polnischen Verfasser wiederspiegelte (180 f.), erscheint durchaus plausibel.
Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 bewertete der polnische Untergrund, so Wiaderny im letzten Kapitel, vor allem als Hinweis auf einen kurz bevorstehenden Zusammenbruch des NS-Regimes. Auf Zeichen für eine solche, vermeintlich ähnlich dem deutschen Kollaps im November 1918 ablaufende Entwicklung hätten führende Vertreter der Emigration und des Untergrunds nur gewartet und deshalb geglaubt, nun durch einen Aufstand die Macht in dem noch von den Deutschen besetzten Teil Polens übernehmen zu können. Darüber hinaus zitiert der Verfasser mit der "Rzeczpospolita Polska", einem im Untergrund von der Warschauer Delegatur der Londoner Exilregierung herausgegebenen Organ, aber auch eine offiziöse Stimme, die das Scheitern der Verschwörung gegen Hitler ausdrücklich bedauerte, weil ihr Erfolg den Krieg verkürzt hätte und es vielleicht möglich gewesen wäre, "gewisse Fragenkomplexe im Osten Europas etwas anders zu lösen" (241).
Auch an diesem letzten Beispiel lässt sich ablesen, dass eine wie auch immer geartete Verständigung mit deutschen Gegnern des NS-Terrorregimes in Kreisen der polnischen Emigration beziehungsweise des Untergrunds allenfalls unter antisowjetischen Vorzeichen denkbar schien. Dieses wesentliche Ergebnis seiner Arbeit stellt Wiaderny zu Recht noch einmal in der Zusammenfassung heraus. Für einige Personen aus dem Umfeld der früheren polnischen Machthaber oder aus anderen rechts stehenden Kreisen kann er zudem zeigen, dass sie zeitweise sogar (wieder) zu einer Zusammenarbeit mit dem NS-Regime bereit waren, um ein wenig Einfluss zu erlangen und die NS-Herrschaft über Polen zu mildern. Auf eine solche Milderung der NS-Herrschaft in Polen arbeiteten auch jene deutschen Diplomaten hin, die der Autor schon deshalb als "Verschwörer" bezeichnet - ohne hierfür den Beweis anzutreten.
Anmerkung:
[1] Vgl. zu diesen Bemühungen Bernard Wiaderny: Nie chciana kolaboracja: Polscy politycy i nazistowskie Niemcy w lipcu 1940 [Nicht gewollte Kollaboration. Polnische Politiker und Nazideutschland im Juli 1940], in: Zeszyty Historyczne 142 (2002), S. 131-140.
Lars Jockheck