Jürgen Zimmerer: Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia (= Europa - Übersee. Historische Studien; Bd. 10), 2., durchges. Aufl., Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2002, 344 S., ISBN 978-3-8258-5047-0, EUR 35,90
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Die deutsche Kolonialgeschichte erlebt gegenwärtig eine Renaissance. Nach langen Jahren der "doppelten Marginalisierung" (Sebastian Conrad) des deutschen Kolonialismus durch eine eurozentrische und auf den Nationalstaat fixierte Geschichtswissenschaft rücken neuere Studien den deutschen Anteil an der verflochtenen Entwicklung und wechselseitigen Konstituierung Europas und der außereuropäischen Welt ins Blickfeld. Ausschlaggebend hierfür dürfte neben der Suche nach den historischen Wurzeln aktueller Globalisierungsprozesse vor allem die Rezeption von Konzepten und Fragestellungen der anglo-amerikanischen "postcolonial studies" sein. Die meisten der neueren Untersuchungen begreifen dabei Kolonialismus als einen Diskurs, in dem die Kolonien weniger geografisch lokalisierbare Orte als Objekte und Projektionsflächen deutscher Wünsche darstellen. [1]
Zu diesem Forschungsprogramm ist die mittlerweile in zweiter Auflage vorliegende Freiburger Dissertation von Jürgen Zimmerer eine wichtige Ergänzung und ein notwendiges Korrektiv. Es handelt sich um eine solide, aus den Quellen erarbeitete Politik- und Verwaltungsgeschichte der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, die nicht nur nach den in der deutschen Gesellschaft virulenten Vorstellungen von den "fremden" Kolonien fragt, sondern den tatsächlichen Umgang mit der kolonisierten Bevölkerung untersucht. Denn damit Kolonialismus als Herrschaft funktionierte, mussten die kolonialen Visionen in die normativen Ansprüche des Verwaltungsstaats und vor allem in das alltägliche Handeln der Behörden in den Kolonialgebieten übersetzt werden. Demzufolge thematisiert Zimmerer Phasen und Ziele sowie Utopie und Praxis der deutschen Eingeborenenpolitik in Namibia und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Analyse der deutschen Kolonialideologie.
Zurückgreifen kann er dabei auf eine außerordentlich breite Quellenbasis. Im Vergleich zu früheren Arbeiten zur deutschen Kolonialherrschaft in Namibia wurden nämlich nicht nur die im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde verfilmt vorliegenden Auszüge aus den Verwaltungsakten der Kolonie ausgewertet, sondern auch die nur vor Ort in Windhoek vollständig zugänglichen Archivbestände des kaiserlichen "Zentralbureaus". Durch die Analyse des Schriftwechsels zwischen dem "Zentralbureau" in Windhoek und den einzelnen Distrikts- und Bezirksämtern kann Zimmerer dem konkreten Verwaltungshandeln vor Ort Kontur verleihen. Hinter sämtlichen Maßnahmen und Verordnungen der "Kolonialbürokratie" macht er das Handeln einzelner Individuen sichtbar, deren Entscheidungen und Maßnahmen von unterschiedlichen Sachzwängen, eigenen und Gruppeninteressen sowie individuellen Werthaltungen abhängig waren. Dadurch kann Zimmerer die in den Normen und Verordnungen formulierten Ansprüche mit den konkreten Problemen bei der Umsetzung auf unterster Ebene konfrontieren und die Unterschiede zwischen der als Idealzustand anvisierten Herrschaftsutopie und der tatsächlichen Herrschaftspraxis herausarbeiten.
Im ersten Kapitel zeichnet Zimmerer zunächst die Entwicklung bis zum Ende des Vernichtungskrieges gegen die Nama und Herero 1907 nach. Die demographischen, ökonomischen und institutionellen Veränderungen durch die Kriegsereignisse bildeten die Voraussetzung für die Eingeborenenpolitik nach dem Krieg, deren rechtliche Fixierung in den diversen Verordnungen von 1907 im zweiten Kapitel ausführlich dargelegt wird. Mehrere systematisch angelegte Kapitel beleuchten anschließend zentrale Aspekte der Eingeborenenpolitik. Vorrangige Ziele waren die Sicherung der Herrschaft, die Rekrutierung der indigenen Bevölkerung zur Arbeit sowie ihre soziale Disziplinierung durch Besteuerung und schulische Erziehung. Gerade hier erlaubt das Quellenmaterial der Unterbehörden, die Schwierigkeiten und Probleme bei der Umsetzung der Herrschaftsutopie anhand konkreter Fallbeispiele aufzuzeigen.
Die Zäsurfunktion des Krieges wird dabei bestätigt und relativiert zugleich. Zwar ermöglichte erst die Erosion der indigenen Wirtschafts- und Sozialstrukturen durch den Krieg eine effektive Ausbreitung deutscher Herrschaft. Doch kann Zimmerer überzeugend nachweisen, wie sich bereits in den 1890er-Jahren, unter der oft als "System Leutwein" bezeichneten Phase indirekter Herrschaft durch Zusammenarbeit mit den Häuptlingen, Elemente einer rigorosen Kontrolle der indigenen Bevölkerung ausbildeten. Einzelne Bezirke erließen bereits vor dem Krieg Pass-, Gesinde- und Arbeitsverordnungen, in denen der Zugriff auf die schwarze Bevölkerung forciert wurde. Zwar wurden diese Maßnahmen zunächst noch nicht auf das gesamte Schutzgebiet übertragen, doch korrespondierten sie mit konzeptionellen Überlegungen maßgebender Kreise innerhalb der Kolonialbürokratie und bereiteten damit jenen "menschenunwürdigen Unterdrückungsapparat" (77) vor, der nach dem Rassen- und Vernichtungskrieg 1907 mit den Eingeborenenverordnungen errichtet werden sollte.
Das Ziel dieser Maßnahmen lässt sich nach Zimmerer am besten mit dem Begriff einer "rassischen Privilegiengesellschaft" (93) fassen, in der die unterschiedliche rechtliche Stellung anfangs kulturell, später zunehmend biologisch und ethnisch begründet wurde. Die Eingeborenenverordnungen sollten die einheimische Bevölkerung vor allem als billige Arbeitskräfte verfügbar machen und durch Arbeit für die weißen Kolonialherren erziehen. Die Identität der Schwarzen wurde durch Passmarken festgestellt und ihre Mobilität zugunsten des Arbeitskräftebedarfs von Siedlern, Eisenbahnbau und Diamantenminen kanalisiert und kontrolliert. Landenteignung und Maßnahmen zur Rassensegregation sicherten gleichermaßen weiße Dominanz und ethnische Reinheit. Nicht zuletzt ständiger Arbeitskräftemangel sorgte aber dafür, dass den Afrikanern ein Minimum an Rechten eingeräumt wurde. Zumindest theoretisch sollten sie auf einem "halbfreien" Arbeitsmarkt sowohl ihren Arbeitgeber wählen als auch ihren Lohn frei aushandeln können.
Die Realität sah freilich anders aus. Kompetenzgerangel mit der Schutztruppe, logistische Probleme, die sprichwörtliche Weite des Landes, chronische Unterbesetzung vieler Stationen und der Landespolizei, der Ermessensspielraum der Bezirks- und Distriktsämter sowie abweichende Vorstellungen der meist konservativen weißen Siedler verhinderten eine effektive Umsetzung der Verordnungen auch nach der Einführung der kommunalen Selbstverwaltung 1909. Zimmerer kann dies mit einer Vielzahl von Einzelfällen belegen. Beispielsweise versagten die Kontrollmechanismen der Zentralverwaltung völlig hinsichtlich der als väterliches Züchtigungsrecht legitimierten Prügelstrafe für die Schwarzen. Diese an Sadismus grenzende "Kultur der Gewalt" (205) wurde von Gerichten und Lokalbehörden zumeist auch als notwendige Erziehungsmaßnahme geduldet. Ähnlich machtlos war man gegenüber der afrikanischen Bevölkerung, die das Funktionieren der Verordnungen durch Namenswechsel, Wegwerfen der Passmarken und Dienstbücher oder Ortswechsel über Distriktgrenzen hinweg geschickt unterlief. Aufgebrachte weiße Siedler forderten deshalb, die schwarzen Arbeiter zu tätowieren. Auch wenn einige Bezirksvorsteher mit der Idee durchaus sympathisierten, kam das "Zentralbureau" in Windhoek diesem Vorschlag nicht nach, stünde man doch mit einer derartigen Maßnahme alleine unter den europäischen Kolonialmächten. Für das Scheitern der Herrschaftsutopie war es dennoch symptomatisch. Denn der anvisierte "halbfreie" Arbeitsmarkt konnte nur dann funktionieren, wenn die Arbeiter auch als solche anerkannt wurden. Der Vorschlag, auf eine Disziplinierungsmaßnahme aus dem Arsenal der Sklavenwirtschaft zurückzugreifen, zeigt jedoch, dass in der Praxis die deutschen Siedler in den Schwarzen eher Sklaven als mit Rechten ausgestattete Arbeiter sahen.
Jürgen Zimmerer erkennt in der ab 1907 sanktionierten Gesellschaftsordnung Züge eines "vormodernen" ständestaatlichen Gesellschaftsmodells mit "modernen" Elementen. Damit wird die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia in die Entwicklung europäischer Staatlichkeit eingeordnet. Die gleichermaßen berechtigte Frage, ob das verwaltungstechnische Experiment in den Kolonien auch auf deutsche Ordnungsvorstellungen nach 1918 zurückwirkte, wird hingegen nicht weiter verfolgt, wie überhaupt der Verfasser sich bei möglichen Kontinuitätslinien zum weiteren Verlauf der deutschen Geschichte zurückhält.
Es ist allerdings das große Verdienst der Arbeit, für derartige Fragestellungen die Voraussetzungen geschaffen zu haben. Denn durch die Fülle des ausgewerteten Archivmaterials leistet Zimmerers Studie Grundlagenforschung und schließt wichtige Lücken in unserem Wissen über die koloniale Situation in Deutsch-Südwestafrika.
Anmerkung:
[1] Susanne Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, 1770-1870, Berlin 1999 [engl. Original 1997]; Sara Friedrichsmeyer / Sara Lennox / Susanne Zantop (Hg.): The imperialist imagination. German colonialism and its legacy, Ann Arbor, Mich. 1998; Alexander Honold / Oliver Simons (Hg.): Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen / Basel 2002; Birthe Kundrus (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2003.
Bernhard Gißibl