Michael Pesek: Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt/M.: Campus 2005, 354 S., ISBN 978-3-593-37868-8, EUR 34,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jürgen Zimmerer: Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia, 2., durchges. Aufl., Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2002
Rolf Peter Sieferle: Europe's Special Course. Outline of a research program, Stuttgart: Breuninger Stiftung 2001
David Thomas Murphy: German Exploration of the Polar World. A History, 1870-1940, Lincoln: University of Nebraska Press 2002
Die Berliner Dissertation von Michael Pesek behandelt mit den Anfängen der Kolonialherrschaft in Ostafrika ein eigentlich gut erforschtes Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte. Bisherige Arbeiten näherten sich dem Thema allerdings meist aus der Perspektive der imperialen Metropole und verfolgten die Etablierung des kolonialen Staates weitgehend anhand des Transfers der Institutionen des bürokratischen Anstaltsstaates. Pesek hingegen fragt nach den lokalen Bedingungen und Voraussetzungen kolonialer Herrschaft, die er als "in weiten Teilen peripatetische Herrschaft" (31) begreift: die kleine Zahl deutscher Kolonisierer war ständig auf Reisen, um die zunächst nur auf der Landkarte existierende Interessensphäre in einen seriellen Herrschaftsraum nach europäischem Vorbild zu transformieren. Seine Studie zeigt eindrucksvoll, wie sehr die Praktiken und Wissensordnungen des ostafrikanischen Karawanenhandels die Reise- und Herrschaftspraxis der deutschen Kolonisierer prägten. Am Anfang der Kolonialherrschaft in Ostafrika stand weniger Carl Peters, sondern der indische Küstenhändler Sewa Haji, dessen Vermittlung von Trägern, Karawanenführern, Tauschwaren und Informationen den Deutschen überhaupt erst den Zugang ins Landesinnere ermöglichte.
Methodischer Referenzpunkt der Arbeit ist Johannes Fabians kulturanthropologische Dekonstruktion der europäischen Forschungsreisenden in Zentralafrika. [1] Wie Fabian unterzieht Pesek seine Quellenbasis - in erster Linie die Archivbestände des Bundesarchivs, der Tanzania National Archives, zeitgenössische Reiseberichte sowie Teile der Bilddatenbank der Deutschen Kolonialgesellschaft - einer subversiven Lektüre. Indem er den Fokus auf Handlungen und Akteure richtet, löst er die Auffassung eines Zusammenstosses monolithischer Kulturen von Kolonisierern und Kolonisierten auf in eine Vielzahl von Situationen, in denen Herrschaftsbeziehungen immer wieder inszeniert und symbolisch ausgehandelt werden mussten.
Die Darstellung beginnt mit einer ausführlichen und differenzierten Analyse der politischen, kulturellen, symbolischen und ökonomischen Dimensionen des interregionalen Karawanenhandels Ostafrikas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dessen Verkehrswege begreift Pesek als "Kontaktzone" (31) bewegter Kulturen, in der Herrschaft, Waren, Macht und Identitäten ausgehandelt wurden. Detailliert erläutert er die komplexen Funktionsweisen und Disziplinarordnungen der Handelskarawanen sowie die politische und kulturelle Bedeutung des Zugangs zu Baumwollstoffen, Feuerwaffen und Elfenbein, denn auf diese Infrastruktur waren die europäischen Reisenden "im Morgengrauen der Kolonialherrschaft" (102) - so die programmatische Überschrift des zweiten Kapitels - für ihr Weiterkommen unbedingt angewiesen. Um sich in der Begegnung mit afrikanischen Chiefs als Vertreter europäischer Zivilisation in Szene zu setzen, verfügten sie über wenig mehr als ihre Hautfarbe, ihren Körper, die schwarz-weiß-rote Fahne sowie die Errungenschaften europäischer Technik. Die letztliche Machtlosigkeit der Diskursmächtigen zeigte sich in Situationen, die Pesek - in einer nicht weiter diskutierten Abwandlung eines Konzepts von Homi Bhabha - als Mimikry der Reisenden bezeichnet. So ließ beispielsweise Gustav Fischer seiner Karawane "einen über und über mit Koransprüchen beschriebenen Lappen" (143) als Fahne vorantragen, um das Vorankommen zu sichern. Derartige Imitationen von als afrikanisch verstandenen Praktiken finden sich auch bei Carl Peters' Usagara-Expedition, die im dritten Kapitel untersucht wird. Angesichts ihrer pompösen Theatralik, der Nilpferdpeitsche als Ordnungsinstrument sowie klar kolonialen Zielsetzungen markierte sie für Pesek den Übergang von der Forschungsreise zur kolonialen Expedition, in der die Praktiken und Hierarchien des Karawanenhandels nach und nach durch europäische Vorstellungen von Ordnung und Disziplin ersetzt wurden.
Der ephemere Charakter der kolonialen Reiseherrschaft erlaubte den deutschen Kolonisierern jedoch kaum mehr als die Bildung von "Inseln der Herrschaft" (190) mit begrenztem Einfluss, die Gegenstand des vierten und fünften Kapitels sind. Gerade weil auf die meisten Begegnungen zwischen Kolonisierern und Afrikanern kein kolonialer Alltag folgte, waren die Kolonialherren zu einem "Kampf um Sichtbarkeit" (191) gezwungen. Über die Verleihung von Symbolen, Imponiergehabe und Strategien des Theatralischen versuchten sie, Herrschaftsbeziehungen zu etablieren und die Momenthaftigkeit ihrer Präsenz nachhaltig zu verlängern. Terror bildete daher in seiner Kombination aus Theatralik und Gewalt ein zentrales Herrschaftsinstrument, und in der dem militärischen Erfolg aufgebürdeten "symbolischen Last" (198) entdeckt Pesek folgerichtig eine wichtige Wurzel der exzessiven Gewalt und Brutalität kolonialer Kriegsführung.
Im sechsten und letzten Kapitel werden schließlich die Anfänge kolonialer Subjektbildung diskutiert. Ort der Untersuchung sind wiederum die Expedition und die Mechanismen und Grenzen der Disziplinierung der afrikanischen Träger und Soldaten. Zwar wurden die regulären Schutztruppensoldaten, die askari, durch regelmäßigen Sold, militärischen Drill, bürokratische Erfassung und Uniform am stärksten in die koloniale Ordnung integriert. Doch auch ihre Einbindung in das koloniale Projekt vollzog sich nicht nur nach dem Willen der Kolonialherren. Dem Missbrauch der Uniform als Insignie der Herrschaft standen die Kolonisierer oft ebenso hilflos gegenüber wie der Tatsache, dass sich im Gefolge der Kolonialherrschaft mit den askari auch der Islam ausbreitete.
Peseks Untersuchung endet 1903 mit der Errichtung zumindest formaler Präsenz auch in Ruanda und den ersten Regungen verwaltungsinterner Kritik an den ständigen Kriegszügen, womit Teile der nach dem Maji-Maji-Krieg eingeleiteten Reformen bereits vorformuliert wurden. Doch endete 1903 keineswegs die Notwendigkeit und Praxis peripatetischer Herrschaft, weshalb die Zäsur denn auch eher pragmatisch als schlüssig erscheint. Diese Unschärfe resultiert nicht zuletzt auch aus dem Hauptanliegen der Arbeit, den kolonialen Staat zu dekonstruieren und ihn "als Akteur unter anderen Akteuren zu beschreiben" (268). So überzeugend Pesek den hybriden Charakter und den afrikanischen Anteil an der frühen kolonialen Herrschaft belegt, so zurückhaltend ist er bei den Schlüssen, die sich daraus für das Verständnis des deutschen Kolonialismus ergeben. Beispielsweise zeigt die Arbeit eindringlich, auf welch unterschiedlichen Ursachen Gewalt in der Kontaktzone basieren konnte. Die Gelegenheit, die Zusammenhänge von peripatetischer Herrschaft, Symbolpolitik und der situativen Genese kolonialer Gewalt systematisch zu diskutieren, wird vom Autor aber leider nicht wahrgenommen.
Abgesehen von einigen Flüchtigkeitsfehlern - der Karl genannte Forschungsreisende Kaiser hieß Emil (108), "Heinrich" Wissmanns Vorname war Herrmann (185) und der Suez-Kanal wurde 1869, nicht 1896 eröffnet (162) - ist Michael Peseks postkoloniale Perspektive auf die präkoloniale Textur der deutschen Kolonialherrschaft ein gelungenes Beispiel dafür, wie viel an afrikanischer agency sich durch kritische Lektüre aus der einseitigen Überlieferung des kolonialen Archivs rekonstruieren lässt. Nicht zuletzt eröffnen seine Seitenblicke auf die alltägliche Konfrontation der deutschen Kolonisierer mit dem Islam eine Dimension der ostafrikanischen Kolonialgeschichte, die in der deutschen Geschichtsschreibung zum Thema bislang noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat.
Anmerkung:
[1] Johannes Fabian: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001.
Bernhard Gißibl