Michael Pesek: Das Ende eines Kolonialreiches. Ostafrika im Ersten Weltkrieg (= Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich; Bd. 17), Frankfurt/M.: Campus 2010, 419 S., ISBN 978-3-593-39184-7, EUR 39,90
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Als Deutschland am 3. August 1914 "in aufgedrungener Notwehr" in das neutrale Belgien einmarschierte und die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts sich Bahn brach, war den schon seit langem prospektiv kriegführenden Parteien eines klar: Über künftige Kontributionen und Annexionen würde auf den europäischen Schlachtfeldern entschieden werden - nicht in den Kolonien. Für den Ausgang des Krieges sollte das, was in der Peripherie passierte, allenfalls marginale Bedeutung haben.
Doch obwohl dieser Krieg in erster Linie kein Krieg um Kolonien war, war es doch ein Konflikt zwischen Kolonialreichen, deren überseeische Territorien ihm außereuropäische, globale Raumdimensionen verliehen - und ihn zum Weltkrieg werden ließen. Eigenen Ambitionen und Weltmachtträumen zum Trotz hatte das Deutsche Kaiserreich sich hierbei eher als ein ziellos und weithin inkohärent geführter "Kleingartenkolonieverein" (10) denn als mächtiger Global Player erwiesen.
Togo fiel bereits im August 1914 in britische und französische Hände. Die deutschen Truppen in Südwestafrika kapitulierten Anfang Juli 1915 in Khorab nahe Otavi, die letzten Einheiten in Kamerun gaben im Februar 1916 auf. Allein in Ostafrika zogen sich die Kämpfe bis 1918 hin. Die deutsche Kolonie geriet schließlich zu einem der am längsten und härtesten umkämpften Schlachtfelder außerhalb Europas. Und es waren insbesondere die Schwarzen, die in diesem alles andere als "sauber" oder gar "ritterlich" geführten Krieg der Weißen starben. Größte Gruppe der Kriegsopfer waren dabei jedoch nicht etwa die indigenen Soldaten; es waren die Träger, die das Kriegsmaterial durch Dschungel und über Gebirge schleppten. Ohne sie hätte der europäische Krieg in Ostafrika nicht geführt werden können - von keiner Seite.
Hier setzt Michael Peseks stimmige und verständig konzipierte Arbeit an: Konsequent rückt er nicht nur die Peripherie, sondern mit ihr auch die Afrikaner in den Fokus der vielfach noch eurozentristisch geprägten Forschung über den Ersten Weltkrieg. Nach einer konzisen und kritischen Zusammenschau der Literatur beleuchtet der erfahrene Berliner Afrikahistoriker und Mitarbeiter am DFG-Sonderforschungsbereich 640 "Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel" in definitorisch klarer und auf eigene Arbeiten rekurrierender Herangehensweise das fragile, in seiner jeweiligen Konfiguration stark divergierende Gebilde der "kolonialen Ordnung". Sie bestimmte das Verhältnis von Kolonialisierten und Kolonialmacht und somit auch den Krieg in Ostafrika - als "agonales Theater" (36) eben dieser Ordnung.
Die besondere Herausforderung angesichts der äußerst schmalen Quellenlage geht Pesek offensiv an, indem er bei seiner Untersuchung gezielt vom Paradigma des Nationalen und einer bloßen Betrachtung weißer Protagonisten abrückt. Er nimmt - methodisch versiert und sprachlich gekonnt - zunächst die Schlachtfelder in den Blick, um sodann intensiv auf die Akteure, die Afrikaner, in diesem europäischen Krieg einzugehen. Dabei ist er stets bemüht, die Alltagserfahrungen, sowohl der weithin passiven Zivilbevölkerung wie auch der aktiv in die Kämpfe verwickelten Afrikaner, zu rekonstruieren. Eine durchaus zielführende Herangehensweise, die das sich rapide wandelnde Verhältnis von Kolonisierten und Kolonisierenden in der Umbruchsituation des Ersten Weltkrieges zu fassen vermag.
Freilich kommt eine Betrachtung Ostafrikas im Ersten Weltkrieg - zumal eine, wie die hier vorliegende, welche sich mit Kontinuität und Wandel kolonialer Politik und Kriegführung befasst - nicht ohne eine zentrale, den Verlauf dieses modernen "Guerillakrieges" (17) maßgeblich bestimmende, Gestalt aus: Generalmajor Paul Emil von Lettow-Vorbeck, Kommandeur der deutschen Kolonialtruppen. Dieser war davon überzeugt, einen Beitrag zum Sieg in Europa leisten zu können, indem er die alliierten Truppen so lange wie möglich band. Dazu griff er rigoros und schonungslos auf die afrikanische Bevölkerung zurück. Dass Feldzüge und Rückzugsgefechte gegen eine alliierte Übermacht große Teile der Kolonie in ein Schlachtfeld verwandelten und dabei Zehntausende indigener Kombattanten wie Nicht-Kombattanten umkamen, nahm er bereitwillig in Kauf.
Letztlich kostete der Durchhaltekrieg der "Schutztruppe" wohl einer halben Million Menschen das Leben; allein über 100.000 Menschen wurden Opfer von Typhus, Malaria oder der eingeschleppten "Spanischen Grippe", die sich epidemisch ausbreiteten. Lettow-Vorbecks Glorifizierung zum "kolonialen Helden" (336) indes tat all dies nach der Rückkehr in die Heimat keinen Abbruch - ganz im Gegenteil.
In Bezug auf den Ausgang des Weltkrieges mögen die Kämpfe in Ostafrika sicherlich von marginaler Bedeutung gewesen sein. In Ostafrika jedoch - das vermag Peseks Arbeit in beispielhafter Art und Weise aufzuzeigen - schuf der Erste Weltkrieg eine Umbruchsituation mit einschneidenden und umfassenden Folgen, sowohl für die bestehenden kolonialen Ordnungen als auch für die afrikanische Gesellschaft selbst. Das Ergebnis des Krieges war letztlich weitaus mehr als ein "Kleiderwechsel der Kolonialherren" (383) oder die bloße Neuordnung der kolonialen Landkarte Afrikas.
Zum einen waren die Kolonialherren noch nie zuvor so auf die Kooperation "ihrer" Afrikaner angewiesen gewesen. Zum anderen befand sich bislang scheinbar Unumstößliches zunehmend in Auflösung: War die Machtverteilung vor dem Ausbruch des Krieges noch klar geregelt, - "Weiß zu sein hieß, Herr zu sein. Ob es sich dabei um einen Deutschen, Franzosen oder Briten handelte, spielte dabei kaum eine Rolle." [1] - so wurden nun europäische, indische und afrikanische Soldaten gleichermaßen als Gefangene wahrgenommen. Doch insbesondere durch das tägliche Töten weißer Soldaten sowie dem Dahinsiechen und Sterben eigener Offiziere und Unteroffiziere, bedingt durch Krankheit oder Verwundung, büßte der Körper des Europäers schnell seinen sakralen Nimbus ein (230-242).
Einen letzten Abgesang auf die zivilisatorischen Visionen Europas spiegelt auch der Umstand wider, dass der Islam als großer Gewinner aus diesem Krieg hervorging, denn zahlreiche "Askari" waren während ihrer Dienstzeit konvertiert und brachten so den neuen Glauben in ihre Heimatdörfer. Besonders interessant mutet in diesem Zusammenhang der von der deutschen Seite proklamierte "Heilige Krieg" gegen die ungläubigen Briten, Belgier und Franzosen an; ein letztlich erfolgloses aber durchaus kurioses Kapitel deutscher Kolonialpolitik, von dem Pesek zu berichten weiß (282-295).
Zwar weist das vorliegende Buch kleinere orthografische Fehler und auch vereinzelte Ungenauigkeiten im Bereich der Zeichensetzung auf, beispielsweise bei den Fußnoten (382, 383). Insgesamt jedoch zeichnet sich diese Arbeit durch eine bestechende definitorische und sprachliche Klarheit sowie stets differenzierte, mitunter selbstreflexive (26) Betrachtungen aus. Das abschließende Kapitel zu "Repräsentationen" und hier vor allem die "afrikanischen Perspektiven auf den Krieg" (364-382) runden die stringent gegliederte Arbeit ab.
Insbesondere der Schluss, mit seinen äußerst instruktiven Einlassungen zur Übertragbarkeit der These Karl Schlögels [2] überzeugt. Denn von den sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen her betrachtet scheint der Erste Weltkrieg in Ostafrika durchaus mit dem Dreißigjährigen Krieg im Europa des 17. Jahrhunderts vergleichbar - obschon es eines weiteren Weltkrieges bedurfte, um das koloniale Treiben in Afrika endgültig zu verändern.
Anmerkungen:
[1] Zit. aus: Michael Pesek: Allah strafe England! Wie die Deutschen im Ersten Weltkrieg den Dschihad entdeckten und Afrikas Muslime zum Heiligen Krieg gegen die feindlichen Alliierten aufstachelten. In: DIE ZEIT, 19.02.2004 Nr. 9.
[2] Vgl. Karl Schlögel: Das Europa der Kriege. Der Dämon der Gewalt. In: SPIEGEL SPEZIAL, 01.03.2002, 86.
Daniel Karch