Rudolf A. Mark: Im Schatten des Great Game. Deutsche "Weltpolitik" und russischer Imperialismus in Zentralasien 1871-1914, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 504 S., ISBN 978-3-506-77579-5, EUR 58,00
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Zentralasien, die Großregion, welche vom Kaspischen Meer bis zum Pamir-Gebirge reicht, im Norden an Sibirien und im Süden an Afghanistan grenzt, diente früh als internationale Drehscheibe und Durchgangsland interkontinentaler Karawanenwege, etwa der "Seidenstraße". Handelsbeziehungen beförderten hier einst den Austausch westlicher und östlicher Kulturen, sodass sich auf dem Boden der heutigen Republiken Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan die Anschauungen der griechischen Antike und des Islam verbanden.
Diese Jahrhunderte alte Kulturbrücke zwischen China und dem Westen, die aus gutem Grund das Präfix "zentral" im Namen trägt, war zur Zeit des Hochimperialismus nicht nur Zielgebiet verschiedenster Wirtschaftsinteressen. Sie war auch Schauplatz internationalen Mächteringens und Ort direkter machtpolitischer Auseinandersetzungen zwischen dem Russländischen Kaiserreich und dem British Empire, die Deutschland gezielt zu "fixieren" (13) versuchte, um so die Energien und Ressourcen der beiden Weltmächte zu binden - und den eigenen außenpolitischen Spielraum zu erweitern. Die Beobachtung dieses "Great Game", also des dortigen Machtpokers zwischen Briten und Russen, spielte seit Bismarck eine zentrale Rolle in der Außenpolitik des Deutschen Reiches und war wesentliches Element der Berliner Orient- sowie der späteren Weltpolitik. Der Geschichtswissenschaft indes war dies bislang allenfalls eine Randnotiz wert.
Ins Licht einer breiteren, internationalen Öffentlichkeit kehrte die aus dem europäischen Fokus scheinbar entrückte und über Jahrzehnte hinweg vergessene Region samt ihrer Anrainerstaaten erst (wieder) vor rund zehn Jahren - nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und ihrer nunmehr apostrophierten strategischen Bedeutung im internationalen "Kampf gegen den Terror". Seit der Stationierung von Bundeswehrsoldaten in der südusbekischen Stadt Termiz, im Rahmen der International Security Assistance Force (ISAF), steht Zentralasien auch wieder auf der Agenda deutscher Außenpolitik, wie man auch den "Zentralasienkonzepten" der Bundesregierung entnehmen kann. Nicht ohne Grund ist Deutschland als einziges europäisches Land in jedem Land Zentralasiens mit einem Botschafter vertreten.
Umso verwunderlicher scheint die hierzulande weithin fehlende Erinnerung daran, dass eben diese Region in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon einmal breites öffentliches Interesse in Deutschland genoss - und über Jahrzehnte hinweg wesentlicher Gegenstand der Berliner Politik war. Diesen bis dato "nicht berücksichtigten Aktionsbereich der Außen- und späteren 'Welt'-Politik des deutschen Kaiserreichs" (14) zu beleuchten und somit eine Lücke in der Forschung zur Diplomatie- und Gesellschaftsgeschichte des Kaiserreichs bis hin zum Vorabend des Ersten Weltkriegs zu schließen, ist erklärtes Ziel der Studie von Rudolf A. Mark, Dozent für Osteuropäische Geschichte sowie Internationale Beziehungen an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg.
Mark geht es darum, auf breiter Quellenbasis darzustellen und auch zu ergründen, welches Bild sich Politik und Öffentlichkeit des jungen Deutschen Kaiserreichs auf der Suche nach "Weltgeltung" von Zentralasien als Objekt in den internationalen Beziehungen machten. Dies geschah jedoch, so die These des Verfassers, ohne die besondere Interessenlage vor Ort jemals ernsthaft verstanden zu haben oder - und das gilt vor allem für die Zeit des persönlichen Regiments von Wilhelm II. - verstehen zu wollen. Deutschland hat seine macht-wirtschaftspolitische Rolle (auch) in dieser Region schlichtweg überschätzt und die Interessen, Ziele und Einflussmöglichkeiten seiner globalen Gegenspieler falsch ein- oder unterschätzt.
Nicht nur das Fremdbild, welches man in St. Petersburg und London von sich zu zeichnen versuchte, nämlich als ein wirtschaftlicher, "ehrlicher Makler" auftreten zu wollen, fand - so Mark - nach Bismarcks Entlassung immer weniger Abnehmer. Auch die von Berlin über Jahre hinweg, zum Teil wider besseren Wissens, prognostizierte, direkte Konfrontation zwischen Russen und Briten in der Region beschränkte sich letztlich auf ein Gefecht im Jahr 1885.
Somit blieb die deutsche Zentralasien-Politik langfristig erfolglos; hier fand man keinen "Platz an der Sonne", sondern verweilte stets im "Schatten" anderer Großmächte, wie Marks gründliche Studie begrifflich treffend und pointiert zu belegen weiß.
Das stete Bemühen um ein hohes sprachliches Niveau gepaart mit dem zum Teil etwas umständlichen akademischen Stil sorgen indes dafür, dass der Leser sich des Öfteren mit satzbaulichen Herausforderungen konfrontiert sieht. Auch die inhaltliche Strukturierung dieser umfassenden sowie in weiten Teilen bemerkenswert instruktiven Arbeit, die vor dem Leser eine wahre Fülle an Quellen ausbreitet, erschwert bisweilen das Verständnis.
Das hängt nicht nur mit der Dichte der Darstellung, sondern vor allem damit zusammen, dass Mark sich der Thematik zum einen zeitlich, zum anderen aber auch aspekt- und quellenorientiert zu nähern versucht. Nach einem geografisch-historischen Aufzug mit einem ebenso aktuellen wie aufschlussreichen Exkurs zu Deutschland und Afghanistan, wird zunächst die deutschsprachige Publizistik über Zentralasien bis hin zum Ersten Weltkrieg in den Blick genommen, um dann Zentralasien wiederum als Gegenstand der deutschen Politik von der Gründung des Deutschen Reiches bis zur Entlassung Bismarcks zu behandeln. Schließlich widmet sich der Verfasser Zentralasien als Gegenstand deutscher und auch europäischer Großmachtdiplomatie bis zum Ersten Weltkrieg.
Etwas mehr strukturelle und inhaltliche Verdichtung hätten dieser Studie sicherlich gutgetan. Dessen unbeschadet liefert Mark mit der hier vorliegenden Druckfassung seiner als Habilitationsschrift angenommenen Arbeit eine ebenso umfassende wie gelungene Untersuchung zu einer im wissenschaftlichen Diskurs bis dato weithin ausgeblendeten Region, die über Jahrzehnte Schauplatz deutscher und internationaler Interessen war. Basierend auf einem genauen und in seiner Fülle wahrlich beeindruckenden Quellenstudium gelingt es ihm nicht nur, die deutsche Zentralasienpolitik darzustellen, sondern diese auch stringent in die komplexen Zusammenhänge der internationalen Beziehungen um 1900 einzuordnen. Damit leistet Mark nicht nur einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der internationalen Beziehungen in der Zeit des übersteigerten Nationalismus vor 1914. Auch sein Ziel, nämlich die "Limitierung der herkömmlichen Diplomatiegeschichte" zu überwinden, damit die historische Analyse von Außenpolitik "Richtung und Tiefenschärfe" gewinnt (15), ist ihm mit seiner Analyse trefflich gelungen.
Daniel Karch