Jens Flemming / Klaus Saul / Peter-Christian Witt (Hgg.): Lebenswelten im Ausnahmezustand. Die Deutschen, der Alltag und der Krieg, 1914-1918 (= Zivilisationen & Geschichte; Bd. 16), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011, 370 S., ISBN 978-3-631-63037-2, EUR 59,80
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Neuere Quellensammlungen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs liegen inzwischen einige vor. [1] Ist dies schon grundsätzlich zu begrüßen, weil so über die Sekundärliteratur hinaus der Zugang zu Quellen erleichtert wird, kommt im Falle des Ersten Weltkriegs noch hinzu, dass die Forschung gerade auf ihn in den letzten Jahren einen intensiven und in Teilen auch neuen Blick geworfen hat. Quellensammlungen, die das berücksichtigen, sind deshalb umso mehr zu begrüßen.
Der Band, den Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt unter Mitarbeit von Simona Lavaud herausgegeben haben, beschränkt sich von vornherein auf die nationale deutsche Perspektive. Davon abgesehen, werden thematisch aber sehr vielfältige Aspekte einbezogen. Neben klassischen Themenfeldern, wie den soldatischen Fronterfahrungen, den Reaktionen auf den Kriegsbeginn oder Streiks und Protestbewegungen zu Hause, geht es auch um die Fremdwahrnehmungen der deutschen Soldaten im Ausland, die Lebenswelten von Frauen, Kindern und Jugendlichen, um die Wahrnehmung der Kriegsopfer, der körperlich Verwundeten und der psychisch Traumatisierten, um Freizeit oder Kriminalität im Krieg. Vielfältig wie die Themen ist die Provenienz der ausgewählten Quellen. Zu Auszügen aus der sich sofort nach Kriegsbeginn meldenden Kriegspublizistik kommen Erinnerungen und Tagebücher bekannter wie unbekannter Autoren ebenso wie Auszüge aus der großen Zahl älterer Quellensammlungen, die ebenfalls nicht selten bereits im Krieg erschienen und die dann insbesondere in der Zwischenkriegszeit in kaum noch zu überblickender Fülle vorgelegt wurden. Vor allem im Bereich der lokalen-städtischen Erfahrungen wurden auch zahlreiche Archivdokumente aufgenommen, wobei hier insbesondere die Bestände des Staatsarchivs Hamburg ausgewertet worden sind. Die Kommentierung durch die Herausgeber ist im Großen und Ganzen sparsam und vor allem auf Sachinformationen zu den in den Dokumenten erwähnten Ereignissen und Sachverhalten beschränkt. Gelegentlich wird auch über den Fortgang der in den Quellen genannten Einzelfälle informiert. Alle Dokumente wurden gekürzt, die meisten sind kaum länger als eine Seite. Ein (recht knappes) Personen- und Sachverzeichnis, ein Verzeichnis mit zusätzlichen biographischen Angaben sowie eine kurze Bibliographie ergänzen den Band, dem allerdings auch noch ein Verzeichnis der benutzten Quellenbestände hätte hinzugefügt werden sollen.
Wie erscheint also der Erste Weltkrieg aus Sicht dieser Quellensammlung? Gemäß der Konzeption der Herausgeber ist es vor allem ein Krieg von "unten". Die staatlich-institutionelle Perspektive wird keineswegs vollständig ausgespart, die eingestreuten Dokumente von städtischen und staatlichen Behörden, Führungsoffizieren oder die aufgenommenen Militäranweisungen beziehen sich aber ihrerseits meist auf die Dinge des Alltags. Die konkreten Einkommensverhältnisse von Familien, deren bisheriger Ernährer nun im Krieg war, die soziale und mentale Situation von Soldaten auf Urlaub, von Kriegsgefangenen, von Kindern, die Situation von jüdischen Soldaten in ihren Einheiten im Moment der 1916 angeordneten "Judenzählung" im deutschen Heer, die Behandlung von Eingaben und Gesuchen durch lokale Behörden, die Reaktion von Bauern auf städtische "Hamsterer" oder welchen Niederschlag der Krieg in Schule und Unterricht fand - das alles sind Themen, die die Herausgeber interessieren und die entsprechend dokumentiert sind. Die "Wahrnehmungen und Erfahrungen" des Krieges, so das Vorwort des Bandes, ließen sich nicht "über einen Kamm scheren", der Alltag sei "diffus, differenziert, voller Ungleichzeitigkeiten" (26). Genau diese Differenzierung des lange so einheitlich konstruierten deutschen "Kriegserlebnisses" ist ein wichtiges Ergebnis der Forschung der letzten Jahrzehnte gewesen. Die Dokumentation dieses komplexen Bildes gelingt dem Band vorzüglich. Von den Reaktionen auf den Kriegsbeginn über die Dokumentation seiner materiellen Folgen bis zu den Erfahrungen des Kriegsendes im Jahr 1918 sind die ganz heterogenen Wahrnehmungen sowie die unterschiedlichen Alltags- und Lebenswelten, die der Krieg für die Menschen bedeutete, nun auf engem Raum beispielhaft nachzulesen.
Anmerkung:
[1] Neben vielen neueren Sammlungen von Feldpostbriefen, Erinnerungen und Tagebüchern einzelner Personen oder Quellensammlungen lokaler Provenienz zum Beispiel: Hank Sabine (Hg.): Feldpostbriefe jüdischer Soldaten. 1914-1918. 2 Bde. Teetz 2002; Denis Bechmann (Hg.): "Wann wird das Morden ein Ende nehmen?" Feldpostbriefe und Tagebucheinträge zum Ersten Weltkrieg. Erfurt 2008; Bernd Ulrich (Hg.): Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein historisches Lesebuch. Essen 2008.
Friedrich Kießling