Kamil Ruszała: Galicyjski Eksodus. Uchodźcy z Galicji podczas I wojny światowej w monarchii Habsburgów, Kraków: universitas 2020, 479 S., ISBN 978-83-242-3681-7, PLN 49,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Erste Weltkrieg brachte erstmals in umfassender Weise ein Problem in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit, das jeder Krieg provoziert: Flüchtlinge. Neu war jedoch, dass sich der "große Krieg" auch hinsichtlich des Flüchtlingsproblems viel umfassender auswirkte als jeder regional begrenzte Krieg zuvor. Während vor allem die politische Geschichte des Ersten Weltkriegs und seine Folgen historisch untersucht worden sind, fehlen zum Schicksal der Zivilbevölkerung umfassende, vergleichende und vertiefende Untersuchungen. Die inneren Folgen des Krieges und auch die durch ihn hervorgerufenen Fluchtbewegungen sind für die Habsburgermonarchie bislang nicht hinreichend diskutiert worden, obwohl sie von einer derart zentralen Bedeutung waren, dass sie zur Desintegration dieses Staatswesens beigetragen haben.
Galizien war das Kronland der Habsburgermonarchie, über das die Fronten des Ersten Weltkriegs am häufigsten hinweggezogen sind; jeder Frontwechsel und jeder Kampf brachten persönliches Leid, Plünderungen und Gewalt mit sich - und löste bei der betroffenen Zivilbevölkerung Angst und Schrecken aus. So fürchteten sich auch diejenigen, die bereits zu Kriegsbeginn aus Galizien flüchteten, aus verschiedenen Gründen insbesondere vor dem russischen Militär. Hinzu kam, dass Flüchtlinge mithilfe der Eisenbahn viel größere Entfernungen zurücklegen konnten als je zuvor. Daher verteilten sich die Flüchtlinge aus Galizien, wie Kamil Ruszała in aller Deutlichkeit zeigen kann, über die gesamte Monarchie, wodurch auch Zivilbevölkerung hunderte Kilometer von der Front entfernt direkt mit den Kriegsfolgen in Berührung kam. Mehr noch: Im Rahmen der gerade entstehenden Massenmedien, das heißt der modernen Presse, wurde viel mehr über Flüchtlinge berichtet als zuvor, sodass die "Flüchtlingsfrage" in der öffentlichen Meinung einen höheren Stellenwert erhielt.
Galicyjski Eksodus diskutiert nur einen vergleichsweise kurzen Zeitraum, aber dafür in einer angemessenen Tiefe, und deckt die zentralen Aspekte einer jeden Flüchtlingsgeschichte ab. Bereits der Titel verweist bewusst einerseits auf das biblische Motiv des Exodus und andererseits darauf, dass die umfangreiche Fluchtbewegung alle wichtigen nationalen Gruppen umfasste. Ruszała hat dieses bislang für Galizien und für die Habsburgermonarchie insgesamt praktisch nicht erforschte Thema in beeindruckender Weise erarbeitet. Hierzu hat er seine Studie in fünf Hauptkapitel untergliedert, die einerseits den "Exodus", das heißt die Flucht, das Leben der Geflüchteten in den aufnehmenden Regionen, den dort entstehenden Konflikt mit der einheimischen Bevölkerung, die entstehende Selbsthilfe der Geflüchteten und die Rückkehr nach Galizien nach der Wiedereroberung durch die Habsburgermonarchie thematisieren. Doch was erwartete andererseits die Flüchtlinge während der Flucht sowie nach ihrer Rückkehr? Aus dieser Frage ergeben sich, nachdem der Verfasserin "Flucht" konzeptionell gefasst hat, als Schwerpunkte der Darstellung: die Analyse von Flucht bzw. der "Flüchtlingsfrage" im "Großen Krieg", die periphere Lage und die Nähe zur Frontlinie und die Folgen für die Betroffenen während der Flucht sowie der Rückkehr nach Galizien. Ruszałas Studie integriert die Analyseperspektive "Flucht" in besonderer Weise, indem er die Flüchtlingswelle von der staatlich-imperialen Peripherie in das Landesinnere hinein untersucht. Es gelingt ihm zu zeigen, wie eng auch unter den Kriegsbedingungen die galizische mit der habsburgischen Alltagsgeschichte verwoben war. Gerade der Flüchtlingsstrom aus Galizien verstärkte den bereits existierenden Konflikt zwischen Polen, Ukrainern und Juden.
Ruszała arbeitet eindrücklich heraus, wie die Geflüchteten häufig zum ersten und einzigen Mal mit den anderen Nationalitäten des Reiches in Kontakt kamen. Während dieser Kontakte unter ganz besonderen Umständen ging es um die Sicherung der eigenen Existenz, also um Versorgung und Unterkunft. Und umgekehrt lernten die Einheimischen so auch andere Bevölkerungsgruppen der Monarchie kennen, für sie waren die Flüchtlinge jedoch eine Bedrohung, gerade hinsichtlich der Konkurrenz um Wohnraum und Versorgunggüter. Die Bevölkerung vor Ort erlebte somit das "rückständige", arme Galizien durch den Kontakt mit den Flüchtlingen. Für diese ging es um die Sicherung der eigenen Lebensumstände unter den Bedingungen eines kräftezehrenden Krieges. Die Konkurrenz zwischen den Gruppen während der Flucht und nach der Rückkehr nach Galizien um die insgesamt spärlichen Ressourcen führte, wie Ruszała zeigt, zu verstärkten Stereotypisierungen und Abschottungen innerhalb der galizischen Bevölkerung und auch zwischen den Kronländern: Der Kampf um die Ressourcen führte während der Flucht zu einer Verhärtung der Konfliktkonstellation auch zwischen den Kronländern, zumindest aber zu einer Schwächung des solidarischen Zusammenhalts innerhalb der Monarchie. Da die finanzielle Unterstützung der Flüchtlinge durch Wien wiederum von den Einheimischen als Bevorzugung gelesen werden konnte, bildete diese Verhärtung einen Beitrag zum Zusammenbruch. Auch die Rückkehr nach Galizien verstärkte die Konflikte um Ressourcen zwischen den Nationalitäten - kriegsbedingt verschärfte sich die Armut, nicht zuletzt wegen der fehlenden Möglichkeit, die Äcker zu bestellen.
Ruszała arbeitet anhand des "Galizischen Exodus" Gründe dafür heraus, warum der Konflikt zwischen den Nationalitäten Galiziens sich im Kriegsverlauf verschärfte, aber auch, warum die übrigen Kronländer es ebenfalls an Solidarität mit den galizischen Flüchtlingen fehlen ließen. Damit ist nicht allein ein Werk über Flucht und das Schicksal von Flüchtlingen in einem fremden Land entstanden. Die Studie zeigt auch, wie Flucht im eigenen Land von Flüchtlingen und von der aufnehmenden Bevölkerung gewertet wird. Hiermit historisiert der Verfasser ein in Konfliktregionen allgegenwärtiges Problem: Die aufnehmende Bevölkerung verhält sich nicht deswegen ablehnend, weil sie in moralischer Hinsicht verkommener wäre, sondern weil sie sich in ihren Lebensumständen durch den Kampf um Ressourcen bedroht sieht. Diese Historisierung von kriegsbedingter Flucht ist über den Beitrag zur galizischen Geschichte hinausgehend ein wichtiges Verdienst dieser Studie, die hoffentlich zu weiteren Forschungen zur Geschichte von Flucht in Konfliktregionen des östlichen Europa anregen wird.
Heidi Hein-Kircher