Helmut Rumpler (Hg.): Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg. Teil 1: Der Kampf um die Neuordnung Mitteleuropas. Teil 2: Vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zum neuen Europa der Nationalstaaten (= Die Habsburgermonarchie 1848-1918; Bd. XI/1), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2016, 2 Bde., XXVII + 1519 S., ISBN 978-3-7001-7968-9, EUR 190,00
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Nachdem bereits 2015 der umfangreiche Band zur Weltkriegsstatistik erschienen war, legte Helmut Rumpler ein Jahr später als Herausgeber den ersten Teilband des Bandes XI des Mammutwerks "Die Habsburgermonarchie 1848-1918" vor, dessen Gesamtherausgeber er auch ist. Herausgekommen ist erneut ein sehr umfassendes Werk von mehr als 1500 Seiten, welches ob dieses Umfangs ebenfalls in zwei Teile zerlegt werden musste. Dass dies notwendig war, belegt einmal mehr den wachsenden Hang dieses hinsichtlich seiner Anfänge bis in die 1970er Jahre zurückreichenden "Jahrhundertwerks" zur Monumentalität. Diese Entwicklung hatte indes mehr Vor- als Nachteile, entstand auf diese Weise doch ein ob seiner Detailfülle unverzichtbares Standardwerk. Dies beweist auch der Teilband zum Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des 100. Jahrestags von Ausbruch und Ende dieser "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) sind seit 2013 viele einschlägige neue Werke erschienen, gerade auch zu den letzten Jahren der Habsburgermonarchie, genannt sei nur die ebenfalls monumentale Neuauflage des Klassikers "Der Tod des Doppeladlers" von Manfried Rauchensteiner unter dem neuen Titel "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie" (2013).
Derartige Neuerscheinungen machen indes den vorliegenden Band nicht überflüssig, folgt dieser doch dem bewährten Schema der Reihe, übergreifende, in erster Linie die Gesamtmonarchie in den Blick nehmende Aspekte zu kontrastieren bzw. zu ergänzen mit gewissermaßen partikularen Entwicklungen in den Kronländern, für die zudem in den meisten Fällen versierte Fachleute aus den nichtdeutschsprachigen Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns verpflichtet werden. Die Experten spiegeln insofern zum einen die Multinationalität der einstigen Habsburgermonarchie wider, zum anderen gewährleisten sie einen transnationalen Zugang zu deren Geschichte, der in dieser Form einzigartig sein dürfte. Die beiden Teilbände gliedern sich, nach einer konzisen, das Erkenntnisinteresse von Herausgeber und Autoren darlegenden und die wesentlichen Ergebnisse aller Beiträge souverän zusammenfassenden Einleitung von Helmut Rumpler, in fünf große Abschnitte, deren Kapitel in der Regel ein Autor verfasst hat.
Den Anfang bilden Beiträge, die in gewisser Weise zum Gegenstand des Bandes hinführen: Manfried Rauchensteiner (Wien) behandelt in einem zusammenfassenden Essay den "Gedächtnisort Erster Weltkrieg", Günther Kronenbitter (Augsburg) "Akteure der Macht. Politische und militärische Kriegsvorbereitungen" und Hew Strachan (Oxford) "Das europäische Mächtesystem und das Habsburgerreich in der Julikrise 1914". Es folgen zweitens Analysen zu wichtigen Aspekten des Kriegsverlaufs: "Mentale Kriegsvorbereitung" (Martin Moll, Graz), "Militärisches Potential und Kriegsverlauf 1914-1918" (Rudolf Jeřábek, Wien), "Soldatenalltag im Krieg" (Lutz Musner, Wien) und "Totalisierung des Krieges" (Erwin A. Schmidl, Wien). Die Art und Weise, wie auf diese Weise klassische militärgeschichtliche Fragestellungen mit solchen einer neuen Militärgeschichte verknüpft werden, ist hier sehr überzeugend gelungen. Deutlich wird in diesem Abschnitt etwa die eklatante Schwäche der k.u.k. Armee im Vergleich zu den Streitkräften des deutschen Verbündeten, die zu einer immer größeren militärisch-politischen Abhängigkeit Wiens von seinem Zweibundpartner führte, andererseits aber auch das weitgehende Fehlen einer Anti-Kriegs-Bewegung in Österreich-Ungarn und sei es auch nur als Elitephänomen. Wie überhaupt die Loyalität der Soldaten der unterschiedlichsten Nationalitäten wesentlich größer war als gemeinhin angenommen wird. Interessante, bisher wenig bekannte Aspekte sind auch die Kriegsgefangenenfrage und die Flüchtlingsproblematik als Folge der sich verschiebenden Frontlinien.
Drittens werden die wirtschaftliche Entwicklung und der kulturelle Wandel im Krieg untersucht: "Das Ringen um die Moral des Hinterlandes" (Mark Cornwall, Southampton), "Die Kriegswirtschaft am Übergang von der liberal-privaten zur staatlich-regulierten Arbeitswelt" (Tamara Scheer, Wien), "Die wirtschaftliche Erschöpfung" (Anatol Schmied-Kowarzik, Wien), "Finanzgebarung. Kriegskosten und Kriegsschulden" (Ágnes Pogány, Budapest) sowie "Die Enttäuschung des Krieges. Kulturelle Transformationen während der »Großen Zeit«" (Wolfgang Maderthaner und Alfred Pfoser, beide Wien). Überaus deutlich wird in diesem Abschnitt, wie der Krieg die Habsburgermonarchie nachhaltig veränderte und insbesondere der wachsende obrigkeitliche Druck sowie die sich kontinuierlich verschlechternde wirtschaftliche Lage das Vertrauen der Menschen in die legitime staatliche Ordnung immer mehr untergrub. Die kriegsbedingte Finanzpolitik sollte zudem angesichts der Niederlage eine dauerhafte Hypothek darstellen, da sie das Fundament bildete für Inflation und Verarmung in der Nachkriegszeit und damit für die Delegitimierung der Nachkriegsordnung bei allen, die sich als Verlierer sahen.
Teilband 1/2 wendet sich in seinem ersten (in der Gesamtzählung vierten) Abschnitt dann den Völkern Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg zu: "Die Deutschösterreicher zwischen Staatsräson und »Nibelungentreue«" (Holger Afflerbach, Leeds), "Die Agonie des historischen Ungarn. Die einheitliche und unteilbare ungarische Nation im Weltkrieg" (Dániel Szabó, Budapest), "Der Einfluss des Krieges auf die tschechische Politik" (Ivan Šedivý, Prag), "Die Flucht der Slowaken aus dem ungarischen Staatsverband" (Dušan Kováč, Bratislava), "Von der kulturellen zur politischen Einheit der Rumänen" (Răzvan Pârâianu, Bukarest), "Der lange Abschied der Polen von Österreich" (Piotr Szlanta, Warschau), "Die Ukrainer von enttäuschter Staatstreue zum Kampf um Selbständigkeit" (Harald Binder, Wien und Lemberg), "Der Habsburg-Patriotismus der Juden" (Marsha Rozenblit, Maryland), "Die Italiener des Österreichischen Küstenlandes, Dalmatiens und des Trentino" (Elena Tonezzer, Trient und Stefan Wedrac, Wien) und "Die Südslawische Frage als Problem der österreich-ungarischen und internationalen Politik" (Marco Trogrlić, Split). In all diesen Beiträgen zeigt sich, dass, mit Ausnahme der Italiener, wo relativ rasch Separatisten die Meinungsführerschaft übernahmen, in der Habsburgermonarchie, trotz lautstarker Aktivisten in der Emigration, bis Anfang 1917 bei den einzelnen Nationalitäten die Loyalität zum bestehenden Staat überwog, sogar im Königreich Ungarn, wo der Druck auf die Minderheiten als Folge der Magyarisierungspolitik sehr groß war. Dies änderte sich erst als Folge der wachsenden wirtschaftlichen Not und des Unvermögens der Regierungen unter den Bedingungen des Krieges den Autonomieforderungen der Aktivisten im Land entgegenzukommen. Deutlich werden auch die fortwirkenden Hypotheken, die sich für die Gesamtmonarchie aus den problematischen Folgewirkungen des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 ergaben.
Der fünfte Abschnitt trägt den Titel "Gezeitenwechsel". Er behandelt zentrale innen- und außenpolitische Fragestellungen der Monarchie und seiner beiden Teilstaaten sowie den militärisch-politischen Zusammenbruch im Herbst 1918 und die Friedensordnung von 1919/20: "Diplomatie zwischen Bündnissicherung und Friedenshoffnung. Die Außenpolitik Österreich-Ungarns 1914-1918" (Lothar Höbelt, Wien), "Das Königreich Ungarn im Ersten Weltkrieg" (Imre Ress, Budapest), "Die Todeskrise Cisleithaniens 1911-1918. Vom Primat der Innenpolitik zum Primat der Kriegsentscheidung" (Helmut Rumpler, Viktring) und "Die imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas in den Verträgen von Saint-Germain und Trianon" (Arnold Suppan, Wien). In den drei ersten Beiträgen werden die vielfältigen außen- wie innenpolitischen Zwänge herausgearbeitet, mit denen die Außen- und Innenpolitik Österreich-Ungarns konfrontiert war. Deutlich wird auch der im Ergebnis destruktive Charakter der Politik der magyarischen Eliten, die zwar zum einen mehrheitlich den Großmachtstatus der Donaumonarchie verteidigten, weil dieser Ungarn einen "Platz an der Sonne" im Reigen der Großmächte garantierte, sie aber andererseits nicht bereit waren, Abstriche im Hinblick auf ihre privilegierte Stellung in der Gesamtmonarchie und im Königreich selbst zu machen.
Der Zusammenbruch des Reichs der Stephanskrone im Gefolge der militärischen Niederlage ab Oktober 1918 war auch und vor allem eine Folge der mangelnden Reformbereitschaft der ungarischen Regierungen. Gleichwohl waren die Diktatfrieden von Saint-Germain (10. September 1919) und Trianon (4. Juni 1920), durch die der Zerfall der Habsburgermonarchie in souveräne Einzelstaaten besiegelt wurde, nicht Ausdruck einer auf Versöhnung abzielenden staatsmännischen Gesinnung der Siegermächte, sondern im Gegenteil die Konsequenz von deren knallharten machtpolitischen Interessen. Die neuen Staaten auf dem Boden des vormaligen Österreich-Ungarn verstanden sich denn auch als integrale Nationalstaaten, obgleich sie faktisch ebenfalls Vielvölkerstaaten waren, während die Pariser Friedenskonferenz mit (Deutsch-)Österreich und (Rumpf-)Ungarn zwei "Reststaaten" übrig ließ, die sich in ihren neuen Grenzen als nicht lebensfähig betrachteten und deshalb revisionistisch orientiert waren. Insofern trug die neue Friedensordnung den Keim künftiger Auseinandersetzungen bereits in sich.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu Matthias Stickler: "Die Habsburgermonarchie 1848-1918" - Ein Jahrhundertwerk auf der Zielgeraden. In: Historische Zeitschrift 295 (2012) 3, S. 690-719.
Matthias Stickler