Ulrich Lappenküper: Bismarck und Frankreich 1815 bis 1898. Chancen zur Bildung einer "ganz unwiderstehlichen Macht"? (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 27), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2019, 677 S., ISBN 978-3-506-79333-1, EUR 68,00
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Ulrich Lappenküper, Schüler des Altmeisters der deutschen Diplomatiegeschichte Klaus Hildebrand, Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung und Professor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, ist sowohl ein ausgewiesener Experte für die Geschichte der Bismarckschen Außenpolitik als auch für die der deutsch-französischen Beziehungen. Bereits 2006 hatte er eine Abhandlung zum Thema "Bismarck und Frankreich" in der Reihe Friedrichsruher Beiträge vorgelegt. Hier folgt nun gleichsam die ausführliche, aus umfassender Kenntnis von Quellen und Literatur schöpfende Studie, die die "Chancen und Grenzen einer schwierigen Beziehung", so der Untertitel des Beitrags von 2006, in beeindruckender Detailfülle analysiert. Für gewöhnlich werden deutsch-französische Beziehungen im Kontext der Politik Bismarcks ja assoziiert mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und dessen Folgen und damit allzu leicht mit dem Topos der Erbfeindschaft. Lappenküper macht hingegen deutlich, dass Bismarcks Frankreichbild und die daraus resultierenden politischen Überzeugungen bzw. seine konkrete Praxis als Außenpolitiker zum einen charakteristischen Veränderungen unterworfen und zum andern auch zu keinem Zeitpunkt eindimensional war.
Prägend waren für Bismarck zwar einerseits die aus dem Erlebnis der Koalitionskriege gegen Frankreich resultierende tiefe Abneigung seines Vaters gegenüber dem westlichen Nachbarn, andererseits aber auch große Affinität zur französischen Kultur, die sich in seiner kurzen Zeit als preußischer Gesandter in Paris 1862 noch verstärkte. Als Bundestagsgesandter in Frankfurt (1851-1859) galt Bismarck fälschlich als Bonapartist, ein Grund, weshalb er am Beginn der "Neuen Ära" nach dem Sieg der Liberalen bei den preußischen Landtagswahlen 1858 als Gesandter nach St. Petersburg abgeschoben wurde. Lappenküper macht allerdings deutlich, dass Bismarcks Blick auf Frankreich sich schon damals einfachen Klassifizierungen entzog: Er war weder ein romantischer Frankophiler, noch folgte er dem hochkonservativen Diktum, dass das bonapartistische Frankreich wegen der Illegitimität der Herrschaft Napoleons III. Preußens natürlicher Feind sei. Noch weniger war er zu haben für ein auftrumpfendes, deutschnational grundiertes antifranzösisches Feindbild. Bismarck betrachtete die französische Politik vielmehr nüchtern realpolitisch und vor dem Hintergrund genuin preußischer Großmachtinteressen. Anfang Mai 1860 begründete er dies in einem Brief an Leopold von Gerlach in der ihm eigenen bildhaften Sprache damit, dass man nicht Schach spielen könne, wenn einem 16 von 64 Feldern von Hause aus verboten seien. Und genauso gestaltete Bismarck denn auch seine Außenpolitik, nachdem Wilhelm I. ihn im September 1862 preußischen Ministerpräsidenten ernannt hatte. Avancen gegenüber Frankreich dienten dem Ziel, Preußens Stellung im Deutschen Bund auf Kosten Österreichs zu stärken und eine preußische Hegemonie (zunächst) im Norden Deutschlands zu begründen. Forderungen Frankreichs nach territorialen Kompensationen zu Lasten des deutschen Bundesgebietes gegenüber verhielt sich Bismarck demgegenüber mit Rücksicht auf die nationalliberale öffentliche Meinung sehr zurückhaltend. Wesentliche neue Ergebnisse zu den preußisch(/deutsch)-französischen Beziehungen der Jahre 1862 bis 1871/75 liefert Lappenküper nicht; hier zeigt sich doch, dass diese wichtige außenpolitische Phase inzwischen doch weitgehend ausgeforscht ist.
Bedauerlich ist, dass Lappenküper, der älteren Forschung folgend, Österreich-Ungarns Rolle in der Spanischen Thronfolgekrise 1869/70 zu frankreichorientiert darstellt: Dass die Doppelmonarchie 1870 trotz vorausgegangener Verhandlungen mit Paris nicht in den Krieg eintrat, hing v.a. damit zusammen, dass die maßgeblichen Entscheider am Wiener Hof nicht mit einem raschen Sieg Frankreichs rechneten. Nach der Reichsgründung blieb, vor allem auch als Folge der Frankreich aufgezwungenen Abtretung Elsass-Lothringens, das Verhältnis zwischen Berlin und Paris dauerhaft belastet. Deshalb war Bismarck nun in der Tat gezwungen, um sein Bild aufzugreifen, Schach zu spielen, obwohl er 16 von 64 Feldern nicht betreten durfte. Versuche, Frankreich über kolonialpolitisches Entgegenkommen gleichsam vom diplomatischen Schauplatz Mitteleuropa wegzulocken, scheiterten weitgehend. Bemerkenswert ist, dass Bismarcks Frankreichpolitik in den Jahren nach 1871 insofern unorthodox blieb, als er, durchaus zum Befremden vieler ihm gewogener preußischer Politiker, darunter kein Geringerer als Kaiser Wilhelm I., vehementer Gegner einer bourbonischen Restauration in Frankreich war. Dies vor allem aus realpolitischen Gründen, weil die innere Zerrissenheit der Dritten Republik zwischen den Republikanern und dem zersplitterten Lager der Monarchisten geeignet war, Frankreich weiter zu schwächen und damit seine machtpolitische Bedeutung für die internationalen Beziehungen zu reduzieren.
Nach seinem Rücktritt als Reichskanzler 1890 verdüsterte sich Bismarcks Frankreichbild weiter, nunmehr sah er in der Dritten Republik vor allem einen "unliebsame[n] Nachbarn" und einen revancheorientierten Gegner. Dass seine Politik, insbesondere die Gebietsabtretungen von 1871, zu dieser Entwicklung ihren Teil beigetragen hatte, sah Bismarck durchaus ein. Lappenküper belässt es allerdings nicht dabei, das Scheitern der Chance zu einer "ganz unwiderstehlichen Macht" ausschließlich auf die Persönlichkeit Bismarcks bzw. sein politisches Wollen zurückzuführen. Er benennt vielmehr klar auch die systemischen Faktoren (616), die Bismarcks Außenpolitik beeinflussten, ja sie teilweise determinierten: Erstens die Existenz eines anarchischen Staatensystems, das Krieg als legitimes Mittel der Politik sah, zweitens der Nationalismus und das Denken in Kategorien von Prestige und Ehre, drittens die Umkehr der (preußisch/)deutsch-französischen Machtverhältnisse zwischen 1815 und 1898, die Frankreich als demütigenden machtpolitischen Abstieg begriff, viertens das Elsass-Lothringen-Problem, das eben nicht nur eine reine territoriale Frage war, fünftens die mangelnde Gipfeldiplomatie nach 1867 bzw. das Fehlen institutionalisierter Regierungskontakte zwischen Berlin und Paris, sechstens die, auch als Folge der negativen Einflussnahme Bismarcks nach 1871, sehr beschränkte Vermittlungsfunktion von Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Kultur zwischen beiden Ländern.
Zweifellos vor dem Hintergrund aktueller politischer Probleme im deutsch-französischen Verhältnis verweist Lappenküper darauf, dass die nach 1945 mühsam errungene Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich und damit auch der Friede mit Frankreich keineswegs gottgegeben seien. Die Art und Weise, wie Lappenküper die Ergebnisse seines Buches in der Schlussbetrachtung in Beziehung setzt mit den Ergebnissen seiner Forschungen zu den ganz anders gelagerten deutsch-französischen Beziehungen nach 1945, gehört, gerade in ihrer knappen Prägnanz zu den besten Teilen dieser mit Gewinn zu lesenden Studie. Nicht nur Historiker und historisch interessierte Bildungsbürger, sondern gerade auch angehende oder auch bereits arrivierte Diplomaten und Außenpolitiker, sollten dieses sehr gelungene Buch gründlich lesen. Man ist fast geneigt, von einer Pflichtlektüre zu sprechen.
Matthias Stickler