Holger Afflerbach / Ulrich Lappenküper: 1918 - das Ende des Bismarck-Reiches? (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 29), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2021, 183 S., ISBN 978-3-506-76011-1, EUR 29,90
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Bismarck-Reich? Auch wenn die Bezeichnung für das Deutsche Kaiserreich durchaus gängig ist, so scheint dies ein stark personenzentriertes Verständnis historischer Prozesse darzulegen. Schon Thomas Nipperdey hat zu Beginn der 1990er-Jahre mit seinem Einleitungssatz "Am Anfang war Bismarck" (nachdem er 1983 den ersten Band seiner Deutschen Geschichte bereits mit "Am Anfang war Napoleon" begonnen hatte) in seiner Darstellung zur deutschen Geschichte 1866-1918 manche Kontroverse hervorgerufen. Gleichwohl tauchte der Satz nicht auf dem Titel seines Buches auf. Das ist hier anders und insofern verständlich, weil der Band seine Entstehung einer gleichnamigen Tagung am Historischen Kolleg München, die gemeinsam mit der Otto-von-Bismarck-Stiftung im April 2019 stattfand, verdankt - und so mag sich auch der plakative Titel erklären.
Es steht zwar außer Frage, dass die Person Otto von Bismarck für das verfassungsrechtliche Konstrukt des Kaiserreiches und dessen Politik überaus bedeutsam war, aber ist es tatsächlich zielführend, einen ganzen Staat so zu kennzeichnen? Die Herausgeber selbst relativieren die Titelgebung (9), beharren jedoch auf der Perspektive "Bismarck", die offenbar als Chiffre für das Kaiserreich und seine Entwicklung, Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen 1871 und 1918 sowie darüber hinaus steht. Warum sich so lange mit dem Titel beschäftigen? Angesichts der Verschiebungen in den Forschungen zum Kaiserreich, die weniger zentriert auf die "große" Politik und weit mehr die gesellschaftlichen, ja auch globalen Zusammenhänge der historischen Entwicklungen, in die die Phase des Kaiserreiches 1871 bis 1918 eingebettet waren, berücksichtigt, kann eine Sammlung von Beiträgen, die das politische Handeln der seinerzeit Verantwortlichen ins Zentrum stellt, erfrischend wirken. Kann, muss aber nicht. Überraschende neue Thesen sind bei der Gesamtanlage und Grundfragestellung des Bandes nicht zu erwarten. Dass die "Kontinuitäten überwogen", wie die Herausgeber einleitend resümieren (14) verwundert daher nicht, haben doch zahllose eher struktur- und kulturhistorische ausgerichtete oder inspirierte Studien der letzten Jahrzehnte genau das immer wieder hervorgehoben, ebenso wie dennoch Modernisierungsprozesse - mal mehr mal weniger ausgeprägt - überall am Werke waren. Das Deutsche Kaiserreich war 1918 ein anderes als das, was 1871 von oben gegründet wurde, unabhängig davon, dass die grundsätzliche politische Ordnung im Wesentlichen gleich geblieben war. Fluchtpunkt der Tagung und entsprechend auch der Beiträge ist auch eher "1918" und der Blick auf die Übergangszeit, in der unterschiedliche Konzepte politischer Ordnung aufeinander trafen; mit deutlichen Nachteilen für die Verteidiger des überkommenen Systems.
Letztlich werden daher in den Beiträgen auch nicht Fragen nach Bismarck und dessen politisches Erbe im engeren Sinne gestellt, sondern die Kontinuitäten und Diskontinuitäten einzelner Faktoren beleuchtet. Zunächst wägt Jörn Leonhard die Umbrüche von 1870/71 und 1918/19 gegeneinander ab. Es folgen vier Abschnitte, die im Einzelnen folgende Themen abhandeln: Hans-Christoph Kraus und Horst Möller beschäftigen sich mit der Stellung Preußens im Reich. Frank Lorenz Müller und Holger Afflerbach widmen sich den regierenden Dynastien und deren endgültigem "Aus" 1918. Der Abschnitt zur Parlamentarisierung 1918 überprüft die Rolle von Parteien im Übergang von Monarchie zu Republik und ist mit drei Beiträgen - Peter Hoeres über Parteien im Allgemeinen, Walther Mühlhausen zur SPD und Andreas Fahrmeir zum Liberalismus - der relativ umfangreichste Teil des Bandes. Abschließend skizziert Ulrich Lappenküper die Minderheitenpolitik im Kaiserreich und deren mögliche Fernwirkungen bis in die Gegenwart.
Die Autoren sind durchgehend arrivierte Vertreter des Faches und handeln ihre Themen und in den Bahnen "traditioneller" Historiographie nüchtern ab. Basis der Beiträge sind zumeist klassische, personenzentrierte Quellen, d.h. zeitgenössische Aussagen von unmittelbar Beteiligten und es dominiert die Binnenperspektive - auch wenn z.B. Jörn Leonhard französische Stimmen zu Wort kommen lässt. So bildet der Band insgesamt einen guten Überblick zu einem Teilbereich der älteren wie neueren Forschung zum Kaiserreich aus der Perspektive von 1918.
Jens Jäger