Holger Afflerbach (Bearb.): Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr im Ersten Weltkrieg. Quellen aus der militärischen Umgebung des Kaisers 1914-1918 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 64), München: Oldenbourg 2005, XII + 1051 S., 3 Abb., ISBN 978-3-486-57581-1, EUR 118,00
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Am 29. November 1916 beschrieb der Chef des Militärkabinetts, Generaloberst Moriz Freiherr von Lyncker, aus dem Hauptquartier im schlesischen Pless den Gemütszustand von Kaiser Wilhelm II.: "Er ist seit einiger Zeit mal wieder furchtbar aufgeregt bis zum Überschnappen. Warum? Ja! Wer kann das wissen. Ich fürchte, daß es Angstzustände sind. Daneben trägt er sich mit heimlichen Friedenshoffnungen, die dann allmählich immer wieder zu Wasser werden. Und das zermürbt ihn, und die Angst macht sich Luft in ungeheuerlichen Renommistereien. Es ist oft nicht zum Anhören, wie er sich selbst zu belügen sucht." (455). Nun dürfte die Kenntnis um den ebenso wankelmütigen wie narzisstischen Charakter des letzten deutschen Kaisers und Königs von Preußen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die deutsche Politik historisches Allgemeingut sein. Sie war es so sehr, dass die Geschichtswissenschaft diese, vornehmlich aus den Friedensjahren seiner Regentschaft entwickelte Interpretation oft ohne viel Überprüfung auf die Zeit des Ersten Weltkrieges übertrug - Wilhelm, der "Schattenkaiser".
Holger Afflerbach, der seit seinen Studien zu Erich von Falkenhayn (1994) und zum Dreibund (2002) zu den besten Kennern der deutschen militärischen Führung vor und im Ersten Weltkrieg gezählt werden kann, hat nun eine voluminöse Edition vorgelegt, in der er Wilhelms Rolle als Oberster Kriegsherr näher beleuchtet. Die Grundlage hierfür bildet ein einleitender Aufsatz, der auf einer früheren Publikation aufbaut und des Kaisers Tun bei der Vorbereitung des Krieges, bei den operativen Planungen, der Koordination von Kriegsführung und Politik und der militärischen Personalpolitik untersucht. Atmosphärische Einblicke in das Hofleben im Großen Hauptquartier (in dem sich der Kaiser über die längste Dauer des Krieges aufhielt) und in das Verhältnis zur Kaiserin und zum Kronprinzen runden den Beitrag ab. Der sich daran anschließende Editionsteil besteht aus zwei Teilen: den Kriegsbriefen des eingangs zitierten Chefs des Militärkabinetts von Lyncker (1853-1932) sowie den Tagebuchaufzeichnungen und Briefen des Generaladjutanten und Kommandanten des Kaiserlichen Hauptquartiers, Generaloberst Hans Georg von Plessen (1841-1929). Beide Ämter waren ausgesprochene Relikte der altpreußischen Militärverfassung. Ihre Träger lebten und arbeiteten in unmittelbarer Nähe des Monarchen, ihre tatsächliche Machtfülle war aber 1914 nur noch sehr eingeschränkt. Lyncker fungierte in einer Doppelfunktion als militärischer Kanzlei- und Personalchef des Kaisers. Plessens Aufgaben als Generaladjutant waren die des "Schattens" Wilhelms; als Kommandant des Hauptquartiers war er zudem für die Operabilität und Sicherheit des Hauptquartiers verantwortlich.
Zunächst einmal erzählen beide Quellen über ihre jeweiligen Autoren. Das ist deshalb interessant, weil sie zwar in der Literatur bei wichtigen historischen Zusammenhängen (Kriegsausbruch 1914, Sturz des Kanzlers Bethmann Hollweg 1917, Rücktritt Wilhelms 1918) auftauchten, ihre eigene Persönlichkeit und ihr politisch-militärisches Handeln aber stets unterbelichtet blieben. Lyncker wie Plessen, so lautete eine zeitgenössische Kritik, hätten um den Kaiser eine "Chinesische Mauer" errichtet, um ihn vor Einflüssen abzuschirmen. Die Edition zeichnet die Charaktere nun schärfer: In Lynckers Briefen eröffnet sich ein pragmatischer Konservativer, der sich so gar nicht in die Schablone des militaristischen Erzjunkers pressen lässt. Die Briefe sind eher militärische Lageberichte an die Ehefrau. Inhaltlich trägt das nicht sehr, da es sich im Wesentlichen um Informationen aus dem Heeresbericht und der Tagespresse handelt. Über Lynckers eigentliche Tätigkeit, die Offizier-Personalpolitik, erfährt man leider kaum etwas. Sich selbst sieht er als "unbequemen" Kabinettschef, der sogar von Wilhelm wegen seiner schroffen Art gefürchtet wurde wie ein Hauslehrer von seinem Zögling.
Plessen dagegen scheint seinem bislang in der Forschung vorherrschenden Bild weitgehend zu entsprechen. Ein eleganter Hofmensch, dessen Loyalität - blinde Hörigkeit, möchte man fast sagen - gegenüber Wilhelm II. fast erschreckt. Politisch ist Plessen ein reaktionärer Schwadroneur, der seine Nähe zum Kaiser zur Intrige nutzt. Die Fronde gegen den umstrittenen Generalstabschef Erich von Falkenhayn Anfang 1915 ist zwar, unter anderem von Afflerbach selbst, von der Forschung aufgearbeitet worden. In den Plessen-Tagebüchern treten aber die gänzlich unterschiedlichen Motivationen der Verschwörer noch einmal ganz plastisch zu Tage. Dass Plessen zu den Erbauern der "Chinesischen Mauer" gehörte, steht nach der Lektüre ganz außer Frage.
Doch was lässt sich aus den Quellen über Wilhelm als Obersten Kriegsherrn erfahren? Diese verfassungsmäßige Rolle, die leider in ihren historischen Grundlagen kaum erläutert wird, hat Wilhelm zweifelsohne nie ausgefüllt. In der Julikrise von 1914 habe er sich, so Afflerbach, keinesfalls als Kriegstreiber erwiesen. Tatsächlich habe Wilhelm versucht, den europäischen Konflikt zu verhindern, wo immer sich Möglichkeiten geboten hätten (britische Neutralität, "Halt in Belgrad"). Dass der Kaiser in die operative Entscheidung nicht mehr eingebunden war, ergab sich aus dem Wandel des industrialisierten Massenkrieges selbst und nicht aus seiner Persönlichkeit. Das Verbleiben bei "seinem Heer" war also ein symbolischer Akt, und zwar einer, der in seiner propagandistischen Wirkung nicht unterschätzt werden sollte. Im Hauptquartier blieb Wilhelm aber auch deshalb, weil ihm das die Möglichkeit bot, sich seiner Regierungsverantwortung in Berlin zu entziehen. Bedarf an gesamtstrategischer Koordination gab es dort allemal, und es wäre gerade auch die Aufgabe des Kaisers gewesen, zwischen den großen Zentren der Macht - Reichskanzler, Oberster Heeresleitung, Militärbefehlshabern, Bundesstaaten und Reichstag - im Interesse einer zunehmend gesamtgesellschaftlichen Kriegsanstrengung zu vermitteln. Allein, dazu fehlten ihm die politischen Fähigkeiten und die Beharrlichkeit. Diesen wankelmütigen und entscheidungsschwachen Kaiser - im entscheidenden Moment - für die Ziele des eigenen Machtzentrums zu gewinnen, hierin bestand fortan die hohe Kunst der Politik. Gegen die These vom "Schattenkaiser" führt Afflerbach noch die Personalpolitik an: Hier habe sich Wilhelm durchaus Möglichkeiten der strategischen Steuerung erhalten: das lange Festhalten an Falkenhayn, die Berufung Hindenburgs und Ludendorffs, die Entlassung Bethmanns und des Chefs des Zivilkabinetts Valentini. Die Liste ließe sich, namentlich seit August 1916, fast endlos fortsetzen. Doch fragt man sich, ob diese Personalpolitik tatsächlich stärker Ausdruck eines politischen, geschweige denn kriegsherrlichen Willens war. Auch hier erscheint Wilhelm letztlich als Getriebener.
Alles in allem eröffnet sich bei der Lektüre ein ebenso lebendiges wie bedrückendes Bild vom Leben und Arbeiten im deutschen Machtzentrum während des Ersten Weltkrieges. Afflerbachs Quellen gewinnen an Aussagekraft dadurch, dass er sie durchgehend mit bereits bekannten autobiografischen Quellen aus der politisch-militärischen Entscheidungsträgerebene (Alexander von Müller, Falkenhayn, Wild von Hohenborn) in Beziehung setzt. So entsteht ein Gesamtbild, das Erkenntniswert weit über die beiden Hauptquellen hinaus besitzt. Die Edition ist sorgfältig und sachkundig besorgt.
Markus Pöhlmann