Michael Jonas / Ulrich Lappenküper / Bernd Wegner (Hgg.): Stabilität durch Gleichgewicht? Balance of Power im internationalen System der Neuzeit (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 21), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 256 S., ISBN 978-3-506-78374-5, EUR 29,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Bardo Fassbender / Anne Peters / Simone Peter u.a. (eds.): The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford: Oxford University Press 2014
Edward James Kolla: Sovereignty, International Law, and the French Revolution, Cambridge: Cambridge University Press 2017
Isabel V. Hull: A Scrap of Paper. Breaking and Making International Law during the Great War, Ithaca / London: Cornell University Press 2014
Lothar Gall / Ulrich Lappenküper (Hgg.): Bismarcks Mitarbeiter, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009
Ulrich Lappenküper (Hg.): Otto von Bismarck und das "lange 19. Jahrhundert". Lebendige Vergangenheit im Spiegel der "Friedrichsruher Beiträge" 1996-2016, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017
Eckart Conze / Ulrich Lappenküper / Guido Müller (Hgg.): Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004
Das Mächtegleichgewicht stellt eines der Kernkonzepte in der historischen sowie politiktheoretischen Auseinandersetzung mit den internationalen Beziehungen dar. Für klassische Autoren der Geschichtswissenschaft wie Arnold Hermann Ludwig Heeren, Leopold von Ranke und Albert Sorel war das Model eines Gleichgewichts zwischen den (europäischen) Großmächten ebenso zentral wie für den (strukturellen Neo-)Realismus, den der US-amerikanische Politikwissenschaftler Kenneth Waltz insbesondere mit seiner 1979 erschienenen "Theory of International Politics" begründet hat. [1] Von Ludwig Dehio und Henry Kissinger über Paul W. Schroeder, "de[m] Doyen der Gleichgewichtshistoriker", sind Theorien des Mächtegleichgewichts bis heute in einer Vielzahl historischer und politologischer Publikationen diskutiert worden [2]: "Was die frühen Gleichgewichtsdenker umtrieb", so Michael Jonas, Ulrich Lappenküper und Bernd Wegner, "scheint auch heute keineswegs ausgeräumt." (8)
Damit konstatieren die Herausgeber zu Recht eine mangelnde Systematisierung der Kriterien einer Balance of Power im bisherigen Gleichgewichtsdiskurs -
"[s]elbst abseits grob unterschiedlicher historisch eingelassener Bedeutungsebenen" (8). Die (im Band synonym verwendeten) Begriffe "Mächtegleichgewicht / Balance of Power" seien bestenfalls als schwer fassbar, mehrdeutig, gleichsam proteushaft zu bezeichnen. Dazu passt die polemische Ablehnung des Mächtegleichgewicht-Konzepts durch Richard Cobden von 1835, mit der der Sammelband eingeleitet wird: Die Balance of Power, so Cobden, sei eine Chimäre, ein unbeschriebenes, unbeschreibbares, unvergleichbares Nichts. Folgt man den Herausgebern, hat sich an diesem Befund bis heute wenig geändert: Vielmehr habe die intensivierte Beschäftigung mit der Balance of Power nach 1945 zu einer nicht gänzlich neuen Unübersichtlichkeit geführt. "Eine moderne Forschungsgeschichte [zum Gleichgewicht der Kräfte, HS]", so wird Arno Strohmeyers Eintrag in der Enzyklopädie der Neuzeit (2006) zitiert, "gibt es trotz der breiten, kaum überschaubaren Literatur nicht." (8)
An diesem Forschungsdesiderat wollen die Herausgeber und Autoren des Sammelbands ansetzen und Begriff, Theorie und politische Praxis des Mächtegleichgewichts aus unterschiedlichen Perspektiven untersuchen. Es geht ihnen dabei also um einen historischen Längsschnitt des Gleichgewichtsdenkens, um seine Genese und Ursprünge in der frühen Neuzeit sowie um seine Entfaltungen und Erschütterungen im 19. und 20. Jahrhundert. Leitend ist dabei die Fragestellung, ob Gleichgewichtskonstruktionen das internationale System in den verschiedenen historischen Kontexten stabilisiert und damit den Frieden befördert haben. Dieser grundlegenden Frage nach der stabilisierenden Wirkung von Gleichgewichtskonstruktionen auf das "internationale System", mit der sich im Kontext des klassischen Griechenlands auch Thukydides auseinandersetzte, widmet sich der Band in vier Teilen von der frühen Neuzeit bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts (Michael Staack).
Wie die Herausgeber betonen, war die Herausbildung der Theorie(n) der Balance of Power eng verbunden mit der frühneuzeitlichen Politik und Diplomatie sowie mit der Entwicklung des modernen Völkerrechts im 16. und insbesondere im 17. Jahrhundert. Damit ist das für den Themenkomplex so wichtige Spannungsverhältnis zwischen Macht und Recht angesprochen. Die "Tendenz zur Verrechtlichung" (10), die sich in der textlichen Fixierung der Idee vom Mächtegleichgewicht im Frieden von Utrecht 1713 ausdrücke, sei zugleich mit dem Bellizismus dieser Zeit konfrontiert worden. Paul W. Schroeder hatte dieses Mächtesystem daher als "pure balance of conquests" (11) bezeichnet.
Hier setzt der Beitrag von Klaus Malettke zu "Universalmonarchie, kollektive Sicherheit und Gleichgewicht im 17. Jahrhundert" an. Malettke bestreitet zwar nicht, dass das Gleichgewichtsprinzip in der Außenpolitik der Staaten häufig vom jeweiligen Eigeninteresse instrumentalisiert wurde. In kritischer Auseinandersetzung mit Schroeders These argumentiert er allerdings, dass der Rekurs auf das Prinzip des Gleichgewichts in den Kämpfen der europäischen Koalition gegen die durch die Zeitgenossen unterstellten Versuche Ludwig XIV., eine Universalmonarchie in Europa zu errichten, mit einer friedenserhaltenden Intention verbunden gewesen sei: der Bewahrung eines multipolaren Staatensystems. Allerdings konnte der Verweis auf das Gleichgewicht umgekehrt auch der Gewaltlegitimation dienen, wie Bernhard R. Kroener in seiner Analyse des Gleichgewichtsdenken im späten 18. Jahrhundert überzeugend darlegt; zusätzlich spannend wäre hier eine Gegenüberstellung dieser Rechtfertigungsfigur mit der anhaltenden Bedeutung der Theorie vom "gerechten Krieg" in der politischen Praxis gewesen, die Anuschka Tischer belegt hat. [3]
In seinem erfreulich differenzierenden Aufsatz geht Kroener auf die Gleichzeitigkeit eines seit den Friedensschlüssen von Utrecht, Rastatt, Baden und Nystadt bestehenden völkerrechtlichen Prinzips des Mächtegleichgewichts einerseits und der anhaltenden Gewalt europäischer und außereuropäischer Kriege andererseits ein. Während Emer de Vattel die Auffassung vertreten habe, die europäischen Staaten wirkten gemeinsam auf die Wahrung von Frieden und Ordnung hin, sei der Zweifel an der politischen Operationalisierbarkeit der Gleichgewichtsvorstellungen vor der die Erlebnisgeneration tief prägenden Erfahrung des Siebenjährigen Krieges 1756-63 stärker geworden. So war für Immanuel Kant, der die Völkerrechtler seiner Zeit angesichts ihrer geringen normativen Autorität 1795 bekanntlich als "leidige Tröster" bezeichnen sollte, die Herstellung eines allgemeinen Friedens in Europa "durch die sogenannte Balance der Mächte [...] ein bloßes Hirngespinst" (36), das, wie Swifts Haus, zusammenbreche, wenn sich nur ein Sperling auf ihm niederlasse. Kroener argumentiert, die Jahrzehnte nach 1763 seien - im Gegensatz zur Kongressdiplomatie unmittelbar nach Utrecht - nicht durch ein verbindliches System der Friedenssicherung geprägt gewesen. Dennoch habe sich aber das Gleichgewicht als Zielkategorie zwischenstaatlichen Handelns in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insofern bewährt "als es in Zentraleuropa durch den Ruhezustand des Reichs kriegerische Konflikte unter Einschluss aller Großmächte verhindert" (52) habe. Die Generation des Siebenjährigen Krieges habe das als kriegserfahrungsgesättigten Fortschritt, nicht, wie Paul W. Schroeder argumentiert hat, als Niedergang der internationalen Beziehungen erlebt.
Auch Timothy C. Blanning setzt sich kritisch mit Schroeders These von der Transformation der europäischen politischen Beziehungen zwischen 1763 und 1848 mit einem kulturellen Wendepunkt der Diplomatie in den Jahren 1813-15 auseinander. Blanning betont, wie Kroener, den "eine Generation währenden Frieden" (63) nach 1763 und bezweifelt die den von Schroeder beschriebenen "radikalen", pazifizierenden Wandel in der europäischen Großmächtediplomatie zur Zeit des Wiener Kongresses; vielmehr erkennt Blanning in der Kriegsmüdigkeit, finanziellen Problemen und einem der Bellizität des 18. Jahrhunderts folgenden Bedürfnis nach Stabilität Faktoren, die den "folgende[n] lange[n] Frieden" (77) bewahrt hätten. Spannend und aufschlussreich ist der Beitrag von Matthias Schulz, der das "Europäische Konzert" des 19. Jahrhunderts in seinem hervorragenden Buch von 2009 [4] als Sicherheitsrat bezeichnet und dafür, im Sinne des Konstruktivismus, auf die Gleichzeitigkeit handlungsleitender Werte und Normen sowie machtpolitischer Praktiken verwiesen hat. Demgegenüber mag Schulz' Schwerpunkt im vorliegenden Beitrag etwas pessimistischer stimmen; die Großmächte betrachteten demnach ihre Sicherheit in erster Linie aus dem Blickwinkel des Gleichgewichtsprinzips, wenngleich dieses 1814/15 rechtlich an die "Verfassung Europas" und die Konsultationspraxis des Europäischen Konzerts rückgebunden worden sei. Diese Rückbindung des Gleichgewichtsbegriffs sei allerdings durch sozialdarwinistische Maximen im "ständige[n] Überlebenskampf" (96) der Großmächte zum Ende des 19. Jahrhunderts hin immer weiter ausgehöhlt worden.
Hier zeigt sich erneut das oben bereits angesprochene Spannungsverhältnis zwischen Macht und Recht, das von den Autoren in der Bearbeitung verschiedener historischer Kontexte unterschiedlich stark gewichtet wird. So verweisen denn auch Patrick O. Cohrs und Bernd Wegner für die von ihnen ausdifferenzierte "Zwischenkriegszeit", Jost Dülffer für das "'Gleichgewicht des Schreckens'" (178) im Kalten Krieg sowie Michael Sheehan und Florian P. Kühn aus politiktheoretischer Perspektive auf Unzulänglichkeiten unhistorisch argumentierender, neo-realistischer Gleichgewichtskonzeptionen. Jost Dülffer warnt mit Blick auf den Ost-West-Konflikt, die relative Stabilität und Konstanz im Staatensystem allein unter das Etikett des Mächtegleichgewichts stellen zu wollen, klammere zu viele relevante Faktoren aus.
Auffällig, aber nicht überraschend ist, dass viele der hier versammelten Beiträge nach wie vor an den Thesen Paul W. Schroeders anknüpfen oder sich an ihnen abarbeiten, Schroeder wieder einmal Ausgangspunkt der Analysen ist. Also doch nur "alter Wein in neuen Schläuchen?" [5] Nicht ganz: Sehr lesenswert (und teils durchaus innovativ) erscheint der Band nicht nur aufgrund der großen zeitlichen Spanne, die er abdeckt und die eine vergleichende Suche nach dem "Wesen" des Gleichgewichtdenkens in verschiedenen historischen Kontexten ermöglicht; damit ist der Band gerade (aber nicht nur) als Einführung in die Thematik sehr nützlich. Bemerkenswert ist auch, dass sowohl realistische als auch auf Normen und Werte ausgerichtete Argumentationen vertreten sind und vom Leser selbst gegeneinander abgewogen werden können. Dafür ist auch die Verbindung von Geschichts- und Politikwissenschaften erfreulich, wobei vielleicht auch die Völkerrechtsgeschichte stärker hätte eingebunden werden können (bei Sheehan etwa finden sich Verweise auf den deutschen Völkerrechtler Lassa Oppenheim, 198f.). [6]
Schließlich hätte sich der Leser (wie so oft in Sammelbänden) über eine stärkere Gegenüberstellung und Diskussion der recht unvermittelt nebeneinander stehenden Aufsätze im Sinne eines Fazits gefreut. In diesem (zugegebenermaßen ziemlich anspruchsvollen) Unterfangen hätte auch noch einmal die Fragestellung nach der Stabilisierung des internationalen Systems durch Gleichgewichtskonstruktionen in verschiedenen historischen Kontexten aufgegriffen werden können. So aber bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als in den verschiedenen Darstellungen selbst nach kontextgebundenen Eigenheiten und kontextübergreifenden Metathemen (etwa dem Widerspruch von Macht und Recht) zu suchen. Zugleich mag hierin aber ein starkes Plädoyer des Bandes für zukünftige Forschungen liegen: Eine verstärkte Historisierung von Theorien und Modellen der Internationalen Beziehungen im Sinne einer Sensibilisierung für die Veränderlichkeit des internationalen Systems. [7]
Anmerkungen:
[1] Zu Heeren und Ranke siehe Gerhard Mollin: Internationale Beziehungen als Gegenstand der deutschen Neuzeit-Historiographie seit dem 18. Jahrhundert. Eine Traditionskritik in Grundzügen und Beispielen, in: Wilfried Loth / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 10), München 2000, 3-30. Zu Sorel siehe Georges-Henri Soutou: Die französische Schule der Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Loth / Osterhammel 2000, 31-44. Zu Kenneth Waltz siehe Carlo Masala: Kenneth N. Waltz. Einführung in seine Theorie und Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, Baden-Baden 2005.
[2] Paul W. Schroeder: The Transformation of European Politics 1763-1848, Oxford 1994; Heinz Duchhardt: "Balance of Power" und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785, Paderborn 1997; Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878, 2. Auflage, Paderborn 2007; Matthias Schulz: Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815-1860, München 2009; Miloš Vec: De-Juridifying "Balance of Power" - a Principle in 19th Century International Legal Doctrine. European Society of International Law Conference Paper Series. ESIL 2011 4th Research Forum, online unter: https://ssrn.com/abstract=1968667 (1.11.2016). In der politologischen Friedens- und Konfliktforschung wurde jüngst die Frage gestellt, ob ein Rückgriff auf das Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts (Denk-)Ansätze für einen konstruktiven Umgang mit den Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts bietet, siehe Harald Müller / Carsten Rauch: Machtübergangsmanagement durch ein Mächtekonzert - Plädoyer für ein neues Instrument zur multilateralen Sicherheitskooperation, in: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 4 (2015), Nr. 1, 36-73. Dazu auch Lothar Brock / Hendrik Simon: Zurück voran? Die Idee eines Mächtekonzerts für das 21. Jahrhundert, in: Wissenschaft und Frieden 34 (2016), Nr. 2, 43-47, http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=2126 (1.11.2016).
[3] Anuschka Tischer: Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis, Berlin 2012.
[4] Siehe Anmerkung 2. Siehe auch Eva Maria Werner: Rezension von: Matthias Schulz: Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815-1860, München 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], http://www.sehepunkte.de/2010/01/14705.html.
[5] So Winfried Baumgart in seiner Rezension zum vorliegenden Band in: Historische Zeitschrift 303 (2016), Nr. 1, 152-154.
[6] Siehe etwa die Analyse der Balance of Power im völkerrechtlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts von Miloš Vec, vgl. Anmerkung 2, oder etwa die Beiträge von Heinz Duchhardt, Vec und Peter Krüger im Oxford Handbook of the History of International Law, vgl. Hendrik Simon: Rezension von: Bardo Fassbender / Anne Peters / Simone Peter u.a. (eds.): The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], http://www.sehepunkte.de/2015/04/26422.html.
[7] Vgl. wiederum Paul W. Schroeder: Historical Reality vs. Neo-Realist Theory, in: International Security 19 (1994), Nr. 1, 108-148; sowie Schulz 2009, Anmerkung 2.
Hendrik Simon