Jörg Ganzenmüller: Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitengeneration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772-1850) (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas; Bd. 46), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 425 S., ISBN 978-3-412-20944-5, EUR 59,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Nach den Teilungen Polen-Litauens stand das Zarenreich vor der Aufgabe, die ständisch geprägten Gebiete der Adelsrepublik zu integrieren. Parallel dazu wurde im Zuge der autokratischen Reformpolitik der gesamte Staatsapparat ausgebaut, sodass sich in den Westgebieten des Russländischen Reiches beide Prozesse trafen und den Staatsapparat vor eine besondere Herausforderung stellten. Hier erwiesen sich diejenigen Maßnahmen von Bedeutung, die zu einer Stärkung der Staatsgewalt auf der lokalen Ebene führen sollten.
Ausgehend von dem apodiktischen Befund, dass die Stärke des Russischen Imperiums seine strukturelle Schwäche sei, setzt Jörg Ganzenmüller seine Untersuchung an: Hatten die Zaren bis zur Reformpolitik Katharinas II. eine indirekte Herrschaft über die einheimischen Eliten ausgeübt, so schufen ihre und die folgenden Reformen, durch die der russische Staat neu gefestigt werden sollte, über den Aufbau einer staatlichen Verwaltung auf der lokalen Ebene Zu- und Eingriffsmöglichkeiten. Diese herrschaftliche Durchdringung des Reiches habe, so die grundlegende These, jene lokalen Eliten herausgefordert, die bislang noch weitreichende Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten gehabt hätten. In den Westgebieten des Imperiums, also in den inkorporierten Gebieten Polen-Litauens, standen die Zaren vor einer grundlegenden Herausforderung, die in den Mittelpunkt der Studie gerückt wird: Diese Gebiete wurden durch eine ständische Tradition geprägt, in der die soziale und politische Ordnung des Adels aufgrund der Schwäche des Königs dominiert hatte. Dieses "Kernland des ständischen Ostmitteleuropas" (10) musste nicht nur in das autokratisch verfasste Imperium eingegliedert werden. Da das Zarenreich "unterverwaltet" (ebenda) gewesen sei, musste dieser Prozess auch mit Hilfe der lokalen Eliten durchgeführt werden. Es geht somit um die Analyse der Erfahrung des Imperiums durch Repräsentation vor Ort, des "Imperiums als lokale Veranstaltung" (9 f.), um am Beispiel der westlichen Peripherie des Russländischen Reiches aufzuzeigen, wie dessen Herrschaft durch seine Repräsentanten funktionierte.
Hiermit greift die sehr kenntnisreiche und gut lesbare Studie ein Desiderat der Forschungen nicht nur zum Russländischen Reich, sondern auch zur polnischen Gesellschaftsgeschichte auf. Weder die Entwicklung der lokalen Eliten unter der russischen Herrschaft noch die Etablierung der autokratischen russischen Herrschaft vor Ort sind bislang hinreichend untersucht worden, auch weil die Forschungen seit dem 19. Jahrhundert von dem jeweiligen nationalen Impetus beider Historiografien dominiert worden sind. So ist bislang die Geschichte der Teilungsgebiete noch nicht ausreichend als Geschichte der Westprovinzen des Russländischen Reiches mit deren Entwicklungen im ganzen Imperium in Verbindung gesetzt worden. Die Studie basiert daher auf einem entsprechenden Literaturkorpus, auf umfangreichen Quellenrecherchen vor Ort sowie auf einschlägigen neueren, methodisch-theoretischen Überlegungen zur (lokalen) Herrschaft und Verwaltung. Hierbei ist es dem Verfasser in eindrücklicher Weise gelungen, in drei nach strukturellen Geschichtspunkten aufgeteilten Hauptkapiteln, die ihrerseits jedoch vor allem nach chronologischen Aspekten untergliedert sind, die mit dem Herrschaftsausbau vor Ort verbundenen Probleme zu schildern.
Das erste Hauptkapitel widmet sich der Elitenkooptation und dem Staatsausbau. Hier werden die mit der Integration des polnischen Adels in die autokratische Ordnung verbundenen (sozio-strukturellen) Probleme aufgezeigt; die Szlachta und die damit verbundenen Schwierigkeiten einer Adelsrevision stehen im Mittelpunkt. Während Katharina II. eine Adelsrevision nach pragmatischen Gesichtspunkten verfolgte und diese unter ihren Nachfolgern zunächst wegen der sich ergebenden Probleme sehr zäh verlief, verfolgte schließlich Nikolaus I. eine normative Integrationspolitik, die sich nach dem Novemberaufstand 1830/31 verstärkte, um so die Adelsrevision abzuschließen. Ganzenmüller kommt zu dem Zwischenfazit, dass die zarische Adelspolitik in den Westgouvernements von Anfang an von einem doppelten Widerspruch gekennzeichnet gewesen sei: einerseits durch die traditionelle Kooptation der Eliten, die durch die Integration der Szlachta in den Reichsadel fortgesetzt worden sei, andererseits durch den Versuch, die Szlachta gemäß der eigenen Normen umzustrukturieren. Unter Nikolaus I. sei aber der Staatsaufbau so weit vorangekommen, dass dieser die pragmatische Adelspolitik in einer normative habe umformen können.
Das zweite Hauptkapitel schließt an die Schilderung dieses Politikwechsels an und untersucht die Transformation der polnischen Landtage in russische Adelsversammlungen, die zur "staatlichen Veranstaltung" werden. Hier konstatiert Ganzenmüller, ähnlich wie im Falle der Adelsrevision, Widersprüche. Diese Landtage (sejmiki) wurden zwar übernommen und durften zahlreiche Ämter auf den unteren Verwaltungsebenen besetzen, aber zugleich wurde versucht, die für die russischen Adelsversammlungen geltenden Normen durchzusetzen, sodass die sejmiki bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu reinen Wahlversammlungen umgestaltet worden seien.
Das dritte Hauptkapitel widmet sich dem Vordringen der Herrschaftspraxis auf der lokalen Ebene und damit der Etablierung der zarischen Staatsgewalt in den Westgouvernements. Auch hierzu lassen sich Diskrepanzen zwischen Anspruch und Ziel feststellen: Die russische Staatsgewalt war auf Grund mangelnder personeller Ressourcen zu schwach, um einen zentral gelenkten Verwaltungsapparat einzurichten. Die polnische Provinz konnte nur mit Hilfe von Wahlbeamten verwaltet werden, obwohl die Übernahme lokalpolitischer Verantwortung grundlegend für eine erfolgreiche Adelsintegration gewesen wäre. Als wichtigste Akteure in diesem Aushandlungsprozess stellt der Verfasser die Gouverneure und Adelmarschälle und die sich aus der Zusammenarbeit von staatlichen und adligen Amtsträgern ergebenden Konflikte vor, die weniger nationaler, sondern eher lokaler oder privater Natur gewesen seien.
Insgesamt gelingt es Ganzenmüller zu zeigen, dass mit dem Blick auf die lokale Ebene die langsame, aber stetige Integrationspolitik dort Erfolge zeigte, wo sie vor allem pragmatisch ausgerichtet war. Der Verwaltungsalltag sei in erster Linie von Kooperation geprägt gewesen und dort am besten verlaufen, wo die Szlachta integriert werden konnte. Der Wechsel zu einer normativen Integrationspolitik habe dagegen Spannungen provoziert, sodass lokale Differenzen zu Tage traten und zu nationalen Konflikten stilisiert worden seien. Somit gelingt es dem Verfasser auf überzeugende Weise, die Etablierung der russischen Staatsgewalt nachzuzeichnen, auch wenn er den Staat nicht als "übermächtigen Akteur" (367) zu charakterisieren vermag. Ein abschließender knapper Vergleich mit der preußischen und österreichischen Integrationspolitik, die einen umgekehrten Weg von der normativen zur pragmatisch orientierten und somit schließlich einen Mittelweg beschritten hätten, zeigt, dass die österreichische insgesamt erfolgreicher war. Der Verfasser betont außerdem, dass eine wechselseitige Wahrnehmung nicht erfolgt sei. Er problematisiert trotz der notwendigen Abstraktion durchaus lebendig die reaktive Handlung der betroffenen (Klein-)Adligen, indem er beispielsweise exemplarisch schildert, welche Strategien - auch durch Korruption und Fälschung - die Betroffenen verfolgten. So gelingt es ihm auf faszinierende Weise, Verwaltungsreformen als einen überaus spannenden gesellschaftlichen Prozess herauszuarbeiten. Die Studie verdeutlicht, dass der Blick auf die lokale Ebene - verbunden mit einer integralen Perspektive, die die bisherige nationale, teleologische Interpretationsebene verlässt - sehr fruchtbar ist und neue Erkenntnisse zur gesellschaftlichen und politischen Geschichte der ehemaligen Teilungsgebiete beziehungsweise Westgouvernements des Russländischen Reiches zu erbringen vermag. Zu hoffen bleibt, dass das Werk einen Anstoß zu weiteren interessanten und lebendigen Studien zur Verwaltungsgeschichte und zur Lokalgeschichte in Ost(mittel)europa geben wird.
Heidi Hein-Kircher