Jörg Ganzenmüller / Raphael Utz (Hgg.): Orte der Shoah in Polen. Gedenkstätten zwischen Mahnmal und Museum (= Europäische Diktaturen und ihre Überwindung), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 358 S., ISBN 978-3-412-50316-1, EUR 35,00
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Im Oktober 2016 finden israelische und polnische Archäologen bei ihren Grabungsarbeiten auf dem Gelände des Vernichtungslagers Sobibor [1] ein Amulett. Das Datum "3. Juli 1929" und "Frankfurt a.M." ist darauf eingraviert. Wie Nachforschungen ergaben, wurde am 3. Juli 1929 ein einziges jüdisches Mädchen in Frankfurt geboren: Karolina Cohn. Inzwischen ist bekannt, dass Karolina, ihre Schwester Gitta und die Eltern im Herbst 1941 aus Frankfurt nach Minsk deportiert wurden. Hier verliert sich die Spur. Entweder wurde Karolina selbst noch von Minsk nach Sobibor verschleppt, oder sie kam bereits in Minsk ums Leben und jemand anderes trug das Amulett. Durch den Fund der Archäologen begannen die Recherchen über das Mädchen und seine Familie, inzwischen wurden Stolpersteine in Frankfurt verlegt und Verwandte in den USA ermittelt. [2]
Bis 2017 dauerten die mehrjährigen archäologischen Arbeiten in Sobibór an, fast 20.000 Objekte von hier Ermordeten wurden dabei gefunden, außerdem konnte das Team u.a. die Gaskammern genau lokalisieren. Inzwischen - knapp 75 Jahre nach dem Aufstand in dieser Vernichtungsstätte - hat der Bau einer Gedenkstätte und eines Museums begonnen. [3] Blickt man auf Orte des Massenmords an den europäischen Juden in Polen, hat man es also keineswegs mit Fragen zu tun, die in irgendeiner Weise "abgeschlossen" oder "beendet" sind.
Aus einer Exkursion mit Studierenden der Universität Jena zu einer Vielzahl dieser komplizierten "Orte der Shoah in Polen" ist nun der gleichnamige Sammelband hervorgegangen, den Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz gemeinsam herausgegeben haben. Diese Entstehungsgeschichte des Bandes erklärt auch, dass hier keine neueren Forschungen zu den einzelnen Lagern bzw. Orten versammelt sind, sondern eher eine Auswertung der vorhandenen Literatur, ergänzt durch wertvolle Hinweise zur jeweils letzten Entwicklung sowie Eindrücken vor Ort.
Die Orte, die im Band vorgestellt werden, verbindet zwar, dass sie Orte des Massenmordes in der Zeit der Besatzung waren - doch sind es sehr unterschiedliche Orte und vor allem ihre Nachkriegsgeschichte unterscheidet sich stark. In dieser Hinsicht hat ein Ort wie die Gedenkstätte Auschwitz in Oświęcim mit ihren etwa eineinhalb Millionen Besuchern im Jahr nur wenig gemein mit dem ostpolnischen Sobibór.
Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes schildern jeweils die Geschichte der Lager und Vernichtungsstätten während des Krieges, um dann ausführlich auf die jeweilige Nachkriegsgeschichte und Konzepte des Gedenkens einzugehen. Neben den Beiträgen über einzelne Orte sind in dem Band auch allgemeinere Diskussionsbeiträge zu finden, wie derjenige von Mit-Herausgeber Raphael Utz über die Sprache der Shoah oder Überlegungen zur Würde von Menschen an den Orten der Verbrechen von Christian Jänsch und Alexander Walther. Konstantin Heinisch-Fritzsche stellt den Widerstand in Treblinka und Sobibor anhand der Zeugnisse dreier Überlebender dar und zwei Beiträge sind Fahrten von Schülergruppen (aus Deutschland bzw. aus Israel) nach Auschwitz gewidmet.
Wie die beiden Herausgeber betonen, hatte in der national verfassten Erinnerung zu Zeiten der Volksrepublik Polen das Gedenken an die jüdischen Opfer keinen Platz. Auschwitz wurde als der "Ort des polnischen Martyriums inszeniert". (8) Die Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" und auch Kulmhof (Chełmno nad Nerem) fanden in dieser Sichtweise nahezu keine Beachtung. Zudem war die materielle Ausgangslage eine ganz andere: Hier hatten die Deutschen alles zerstört, bevor die Rote Armee die Mordstätten erreichte. Zudem waren dies keine Lager im eigentlichen Wortsinn, sondern Orte eines derartigen Massenmordes, dass es kaum Überlebende gab, die nach dem Krieg berichten und sich für ein Gedenken hätten einsetzen können. Nicht einmal 150 Überlebende sind aus den drei Lagern der "Aktion Reinhardt" bekannt. [4]
Unabhängig davon, wie dort der Vergangenheit gedacht wird: Wie nähert man sich nun diesen Orten, warum fährt man überhaupt hin? Ganzenmüller und Utz weisen sehr richtig darauf hin, dass diese Orte gerade nicht unveränderte Zeugnisse der Vergangenheit sind und sich keineswegs von selbst erklären, "es ist Wissen vonnöten, um sie lesen zu können". (12) Die Spuren, die wir an diesen historischen Orten finden, bedürfen der Deutung. Und wenn wir vom "Schlauch" oder von den Tätern zynisch "Himmelspforte" genannten engen Weg hören, der in Treblinka direkt zu den Tötungsanlagen führte, dann wissen wir nicht automatisch etwas über die ungeheure Brutalität an diesem Ort, wissen nichts von den Schreien der Menschen, von ihrer unbeschreiblichen Angst.
Den Vorüberlegungen der Herausgeber zur Bedeutung der Orte folgt ein Plädoyer von Raphael Utz für einen sensibleren Umgang mit Sprache, wenn wir etwa diejenigen, die von den Nazis als Juden verfolgt wurden, von denen sich aber sehr viele keineswegs als solche verstanden, pauschal als "Juden" bezeichnen. Weitere Beispiele, auch die unreflektierte Nutzung von Tätersprache, zeigen die Notwendigkeit, unsere Sprache in der Tat immer wieder kritisch zu hinterfragen, auch wenn die Lösungsvorschläge des Verfassers letztlich Hilfskonstrukte bleiben müssen, die andere Widersprüche hervorrufen können. Viele der folgenden Beiträge orientieren sich an diesen Überlegungen und schreiben beispielsweise von "als jüdisch definierten Menschen". Doch waren in der nun so bezeichneten Gruppe doch auch sehr viele, die sich als Juden verstanden, die Juden sein wollten, die stolz darauf waren, Juden zu sein und denen es vermutlich gar nicht gefallen würde, mit der Bezeichnung "als Juden definierte Menschen" belegt zu werden. Es ist kompliziert und das Plädoyer, über diese sprachlichen Fragen nachzudenken, ist ein sehr willkommener und notwendiger Diskussionsbeitrag.
Hier soll nun nicht jeder Beitrag einzeln vorgestellt werden. Deutlich wird, wie schwierig die Geschichte der Orte nach 1945 oft war und dass ein würdiges Opfergedenken zumeist nicht stattfand. Anwohner plünderten die Massengräber. Über die Massengräber in Bełżec fuhren LKW hinweg. Ein Teil des Geländes der ehemaligen Tötungsanstalt Kulmhof diente nach dem Krieg eine Zeit lang als Fußballplatz. Hier entstand erst 1990 ein erstes Museumsgebäude, an den Standorten der ehemaligen Vernichtungsstätten der "Aktion Reinhardt" wurden in den 1960er Jahren Mahnmale errichtet, teilweise in engem zeitlichem Zusammenhang mit Gerichtsprozessen zu den jeweiligen Vernichtungsstätten. Weil die Täter die Spuren verwischt hatten, war oftmals gar nicht klar, wo sich die Gräber genau befanden, so dass Besucher mitunter auf diesen herumspazierten, ohne es zu wissen.
Sehr viel anders präsentiert sich die Nachkriegsgeschichte zweier großer und weithin bekannter Lager: Schon Ende 1944 eröffnete die Staatliche Gedenkstätte in Majdanek, es war damit die erste Gedenkstätte an einem Ort nationalsozialistischer Massenverbrechen überhaupt, die sich deswegen auch an keinerlei Vorbildern orientieren konnte. Und 1947 wurde das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau gegründet. Beide waren vor allem den polnischen Opfern gewidmet.
Während sich die Gedenkstätte in Auschwitz seit über 25 Jahren, so der kritische Befund von Linda Ferchland, "konzeptionell [...] kaum weiterentwickelt" hat (237), werden in Majdanek seit 2008 neue Konzeptionen umgesetzt, deren Hauptziel laut Gedenkstättenleiter Tomasz Kranz die "Dechiffrierbarkeit" des Geländes und seiner verschiedenen zeitlichen Ebenen (nach Kriegsende wurden hier zerstörte historische Objekte rekonstruiert) sein muss. (188) Diese Arbeiten dokumentiert die Gedenkstätte umfangreich auf ihrer Website, wo von 2010 bis zur Abfassung des vorliegenden Aufsatzes von Sarah Kunte über 400 Einträge zu Arbeiten und Veränderungen auf dem Gelände der Gedenkstätte veröffentlicht wurden.
All diese genannten, teilweise noch laufenden Arbeiten verdeutlichen, wie wenig abgeschlossen die komplizierten Fragen eines würdigen Gedenkens und einer angemessenen Aufklärungs- und Erziehungsarbeit an diesen Orten sind. Zudem bleibt wohl abzuwarten, inwieweit die gegenwärtige polnische Regierung willens ist, das Gedenken an die Opfer der "Aktion Reinhardt" weiterhin zu unterstützen. Der Band von Jörg Ganzenmüller und Raphael Utz bietet jedenfalls eine gelungene Zusammenfassung zur Problematik der Orte des Holocaust in Polen und diskutiert wichtige weiterführende Fragen.
Anmerkungen:
[1] In diesem Text werden die Namen der von den Deutschen errichteten Vernichtungsstätten ohne polnische Schriftzeichen geschrieben, um sie von den polnischen Ortschaften zu unterscheiden. Die korrekte polnische Schreibweise verwende ich, wenn ich mich auf die Orte selbst beziehe.
[2] Siehe etwa http://www.fnp.de/lokales/frankfurt/Stolpersteine-in-der-Thomasiusstrasse-erinnern-an-die-Familie-Cohn;art675,2824075 (Zugriff 16.3.2018).
[3] Siehe etwa Stephan Lehnstaedt: Sobibór, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 188 (12/2017), 15-24.
[4] Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017, 169.
Andrea Löw