Andreas Röder: Rodin und Beuys. Über das plastische Phänomen der Linie (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 105), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2003, 192 S., 22 s/w-, 7 Farb-Abb., ISBN 978-3-422-06400-3, EUR 39,90
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Die Idee von Andreas Röder, die Liniensprache der Zeichnungen von Auguste Rodin und Joseph Beuys in einen gleichsam überkünstlerischen, sozial-plastischen Kontext zu stellen, ist mutig, aber durchaus ergebnisversprechend. Denn wir finden in den Zeichnungen Rodins den Einsatz der Linie nicht nur als Kontur, sondern als Andeutung von Plastizität, von Lebendigkeit eines Körpers im Raum. Röder verwendet hier sehr passend den Begriff "semipermeable Membran". Bei Beuys wiederum sind die zarten, konzentriert geführten Bleistiftlinien nicht Umrisse realer Formen, sondern die Veranschaulichung der ätherischen Dimension von Körpern, nach der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners.
Röder leitet seine Untersuchung mit Gedankensplittern zu Goethes Farbenlehre, Bachs h-moll-Messe, der plastischen Dichte der Philosophie Nietzsches sowie dem Kapitel "Humaniora" in Thomas Manns "Zauberberg" ein. In all diesen theoretischen und künstlerischen Äußerungen sind nach Röders Auffassung geistige Sinnlichkeit, Freiheit in der Form und ein sozial-plastisches Ethos vorhanden. Eine Behauptung, die sich anhand der kurzen und abrupt wechselnden Themenvorstellungen kaum verifizieren lässt. Anschließend folgen die beiden Hauptteile über Rodin und Beuys, in denen Röder sich mit Einzelaspekten des zeichnerischen Werks beider auseinandersetzt. Als Konklusion stellt sich bei Rodin sowie Beuys das Phänomen der Linie als eine dem plastischen Denken entwachsende freie Form dar.
Die Einbindung des sozialen Aspekts in diesen Bedeutungszusammenhang gelingt Röder nicht ganz überzeugend. Er meistert diesen Brückenschlag mehr schlecht als recht, indem er Rodins sockellose und damit gesellschaftsbildende Plastik "Die Bürger von Calais" kurzerhand zur Vorwegnahme der sozialen Plastik von Joseph Beuys deklariert. Dass mit dem erweiterten Kunstbegriff von Beuys und der Manifestation des menschlichen Denkens als sozialer Plastik und gesellschaftspolitischer Aktion vollständig andere Bereiche als in Rodins plastisch-zeichnerischem Reflektieren angesprochen werden, ignoriert der Autor wohlweislich.
Stattdessen wartet Röder mit unzähligen Querverweisen und Exkursen zu zeitlich weit zurückliegenden bildenden Künstlern (Raffael, Michelangelo, Dürer), mittelalterlichen Architekturen (Kathedrale), modernen Architekten (Le Corbusier, Fritz Schumacher), Komponisten und Philosophen (Bach, Richard Wagner, Nietzsche, Kant) sowie vor allem zu deutschen Dichtern (Goethe, Thomas Mann) auf. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, zumal der Autor einleitend seinen interdisziplinären Ansatz signalisiert hat und polemisierend im Kapitel "Die Freiheit der Form" die wissenschaftliche Methode als "ultramundane Formel des Despotismus" und "Geißel der Systemfanatiker" (91) verwirft. Röder vermag jedoch nicht, eine alternative Struktur der Argumentationsführung zu konstruieren. Seine Ausführungen sind zu unausgewogen in der Gewichtung der eingeschobenen Themen und zu assoziativ sprunghaft in der Abfolge. Als Leser hat man Mühe zu folgen und wundert sich beispielsweise über die Überpräsenz von Beiträgen zu Goethes und Thomas Manns Schriften bei gleichzeitigem Fehlen der dringend notwendigen Darlegungen zum Beuysschen Kunstbegriff.
Auch die eigentliche kunstwissenschaftliche Analyse der ausgewählten Zeichnungen wie Rodins "Ugolino" und Beuys' "Hirschführer" erfolgt zwar sensibel und einfühlsam, mündet jedoch nicht in dem zu erwartenden Vergleich und daraus hervorgehenden neuen Erkenntnissen. Lediglich die Schlusssequenz, dass die Freiheit der Linie und der Kunst den Anspruch des sozial-plastischen Ethos behaupte, als Gesamtergebnis dieser Arbeit akzeptieren zu müssen, fällt schwer. Alle weiteren Einsichten jedoch, die vom Autor während seiner Analysen gewonnen werden, gehen leider im Wirrwarr der vielen Bezüge und Verweise verloren.
Hinzu kommt die ungewöhnliche Wortwahl und der anachronistische Formulierungsstil des Autors. Dass dichterische Freiheit für Form und vor allem Resultat einer wissenschaftlichen Arbeit noch nie von Vorteil war, weiß jeder, der eine solche bereits verfasst beziehungsweise gelesen hat. Nun sei daran erinnert, dass Röder kein rein wissenschaftliches Konzept anstreben wollte, und so könnte man sich denn allmählich mit seiner blumigen Sprache anfreunden - wenn diese wenigstens konsequent durchgehalten worden wäre. Dem Autor passieren jedoch teilweise sprachliche Ausbrüche, die auch an seiner poetischen Kompetenz zweifeln lassen. Die Wolkenkratzer in New York als "Raketenabschußrampenarchitektur" (121) zu bezeichnen, ist (nach dem 11. September allemal) unpassend, und auch zur Charakterisierung des Beuysschen Werks den Passus "Mischung aus Rosenmontagsmummerei und Karfreitagszauber" (114) zu bemühen, zeugt nicht unbedingt von fachlicher Ernsthaftigkeit.
Das Fazit über Röders Rodin-Beuys-Betrachtungen fällt dementsprechend aus: Trotz eines sehr guten vielversprechenden Ansatzes zu Beginn ergab sich keine systematische ergebnisreiche Erarbeitung der Fragestellung nach dem plastischen Phänomen der Linie. Genau dies fehlte den Ausführungen: die Linie.
Stefanie Lieb