Sebastian Conrad / Shalini Randeria (Hgg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Unter Mitarbeit von Beate Sutterlüty, Frankfurt/M.: Campus 2002, 398 S., ISBN 978-3-593-37036-1, EUR 24,90
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Die hiesigen Sozialhistoriker, von Haus aus skeptisch gegenüber theoretischen Begriffen, die man nicht bei Max Weber nachschlagen kann, haben sich gerade an Konzepte wie 'Gender' oder 'Postmoderne' gewöhnt, da steht schon der nächste Import aus der angloamerikanischen Theoriedebatte vor der Tür: der Postkolonialismus. Hatten bei der Postmoderne manche noch gemeint, sie mit dem zweifelhaften Hinweis ignorieren zu können, dass die Moderne doch noch gar nicht vorbei sei, wird man sich beim Begriff des Postkolonialen ein oder zwei zusätzliche Gedanken machen müssen, um ihn in ähnlicher Weise "widerlegen" zu können. Denn niemand wird behaupten, dass wir noch in der Epoche des Kolonialismus leben. Ironischerweise ist es aber genau das, was die Postkolonialismustheoretiker in der Tat konstatieren: Der Kolonialismus ist nicht vorbei; zumindest was ihn ermöglichte, ihn trug und legitimierte, ist immer noch Teil der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Welt, in der wir leben. Und - wichtiger noch - es ist auch noch Teil der Wissenschaft, die wir betreiben. Europa beziehungsweise der so genannte Westen, seine politische Kultur, seine kulturellen Werte und wissenschaftlichen Leitideen, seine gesellschaftlichen Strukturen und seine inneren Konflikte wurden und werden weiterhin mitgeprägt von seiner inzwischen ein halbes Jahrtausend langen Geschichte der außereuropäischen Entdeckung, Eroberung, Kolonisierung und Bemächtigung.
Dieser Gedanke ist bei weitem nicht neu. Im Zuge der Dekolonisation sind eine Reihe einflussreicher Theorien und Forschungen zur Geschichte sowie zum Fortleben des Kolonialismus auch nach der formalen Unabhängigkeit der meisten Kolonien entstanden, so im Frankreich der 1960er-Jahre die Arbeiten Franz Fanons und Albert Memmis oder im Großbritannien der 1970er und 1980er-Jahre die Arbeiten Stuart Halls. In den USA wurde das Thema vor allem in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren aufgegriffen, und man stritt dort in allen sozial- und kulturwissenschaftlichen Fakultäten leidenschaftlich über den kolonialen 'bias' der westlichen Kultur im Allgemeinen und des akademischen Kanons im Besonderen. In Deutschland beginnt man erst jetzt und nur zögerlich, die koloniale Dimension der westlichen Kultur in die historische Wahrnehmung zu integrieren.
Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist der von Sebastian Conrad und Shalini Randeria herausgegebene Sammelband "Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften". Er versammelt Übersetzungen klassischer und exemplarischer Texte der postkolonialen Theoriebildung aus den vergangenen zwei Jahrzehnten (unter anderem von Stuart Hall, Timothy Mitchell und Ann L. Stoler) sowie eine Einleitung der Herausgeber und einen abschließenden Originalbeitrag von Andreas Eckert und Albert Wirz, der bisherige Ansätze, Lücken und neue Perspektiven der deutschen Kolonialismusforschung vorstellt. Der Titel dieses abschließenden Essays - "Wir nicht, die anderen auch" - umschreibt so kurz wie treffend jene verbreitete Denkfigur, die bislang eine intensivere Rezeption postkolonialer Perspektiven hier zu Lande verhindert hat.
Es lassen sich vor allem drei Ursachen für das langjährige Desinteresse der deutschen Geschichtswissenschaft an postkolonialen Perspektiven identifizieren, zwei harmlose und eine problematische. Zum einen orientieren sich die meisten postkolonialen Ansätze theoretisch an Positionen, die es hier zu Lande nach wie vor schwer haben. Wer sich mit der Diskursanalyse, mit psychoanalytischen Perspektiven oder mit der Rezeption literarhistorischer Forschungen nach wie vor nicht anfreunden mag, wird auch die Arbeiten eines Stuart Hall oder Homi Bhabha mehr irritierend als anregend finden. Immerhin aber kann eine solche Resistenz gegenüber theoretischen Moden manchmal auch davor schützen, Theoreme allzu schnell und ungeprüft zu importieren. Die zweite Ursache liegt darin, dass in Deutschland der weit überwiegende Teil aller Geschichtsschreibung immer noch eine Form der Nationalgeschichtsschreibung ist, die als Paradigma auch dort nicht aufgegeben wurde, wo man komparativ arbeitete. Dies ändert sich erst in jüngster Zeit, nicht zuletzt durch die voranschreitende Europäisierung und das damit einhergehende Interesse an transnationalen Phänomenen. Trotzdem wird es noch eine Weile dauern, bis die Behandlung außerdeutscher oder gar außereuropäischer Kontexte hier zu Lande so selbstverständlich geworden ist wie etwa an amerikanischen Universitäten die Behandlung außeramerikanischer Geschichte. Doch ist auch das angesichts der Fakten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert verständlich. Kaum verständlich ist dagegen eine dritte Ursache für die nur zögerliche Aufnahme postkolonialer Perspektiven. Sie äußert sich in dem bisweilen zu hörenden Argument, die Themen des Postkolonialismus seien im deutschen Kontext irrelevant, weil der Kolonialismus im Rahmen der deutschen Geschichte nur eine Episode gewesen sei.
Hier kommt eine sehr merkwürdige Auffassung zum Ausdruck. Zunächst werden einige Fakten über die tatsächliche Rolle Deutschlands im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verzerrt, das nicht nur ökonomisch mit den USA um 1900 an der Spitze der Welt stand, sondern zwischen dem Berliner Kongress und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch unbestritten zu den wichtigsten Imperialmächten des Globus gehörte, sich an dem 'großen imperialen Spiel' mit viel Aufwand beteiligte und eine systematische Ausbeutung der kolonisierten Bevölkerungen durch Zwangsarbeit und brutalste Unterdrückung jeder Form von Widerstand betrieb, deren trauriger Höhepunkt der erste deutsche Genozid an den Herero war. Wird das aber zugestanden, so ist häufig zu hören, dass hierin wiederum kein spezifisch deutsches Problem liege, sondern eine solche Imperialpolitik von England oder Frankreich noch über einen viel längeren Zeitraum betrieben worden sei. Eben das ist die Logik des 'Wir nicht, die anderen auch', die hinter jenem lange ablehnenden Standpunkt vieler deutscher Historiker zur (Post-)Kolonialismusforschung stand, den Eckert und Wirz mit Recht als nicht mehr haltbar bezeichnen. Sie entspringt einer typisch deutschen Sichtweise, die vor dem Hintergrund des Nazi-Regimes und seiner Verbrechen von vorausgegangenen, außereuropäischen Formen deutscher Rassenpolitik und totalitärer Herrschaftsausübung entweder nichts wissen oder aber sie nur in den Blick nehmen will, insofern sie einen deutschen Sonderweg markieren.
Diese Logik, welche die Wichtigkeit postkolonialer Themen an der Dauer und dem Charakter der eigenen, 'unserer' Kolonialzeit bemisst, missversteht völlig die eigentliche Stoßrichtung postkolonialer Forschungsansätze. Denn es geht hier keineswegs nur um ein nachträgliches 'Sich-Kümmern' um die eigene koloniale Vergangenheit. Diese Auffassung ist nur ein weiterer Ausdruck des immer noch vorherrschenden nationalgeschichtlichen Paradigmas. Demgegenüber haben die postkolonialen Ansätze von Anfang an die Herausforderung einer transnationalen Geschichtsschreibung ernst genommen und den Imperialismus nicht in seinen nationalen Varianten, sondern als Gesamtphänomen untersucht, das die europäische wie die außereuropäische Geschichte prägte.
Eben davon zeugen in beredter Weise die bei Conrad und Randeria versammelten Texte; und das nicht zuletzt deshalb, weil die meisten von ihnen über das Saidsche Dogma, dass alle europäische Wahrnehmung des Außereuropäischen nur Projektion sei, hinaus gehen und neben den keineswegs zu unterschätzenden Formen der Imagination, Repräsentation und Konstruktion des kolonialen Anderen auch einen Blick auf jene praktischen Vernetzungen und Verschränkungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt werfen, die sich entweder inmitten oder aber diesseits beziehungsweise jenseits exotisierender Fantasien herausbildeten. Dabei werden auch inzwischen klassische Konzepte der postkolonialen Theoriebildung einer innovativen Kritik unterzogen. So entwickelt etwa Fernando Coronil die Saidsche Denkfigur des Orientalismus, indem er sie mit einem spiegelbildlich gedachten Konzept des Okzidentalismus konfrontiert, um einige Schritte weiter und zeigt, auf welchen Wegen nicht nur projizierte westliche Gleichheitsvorstellungen Ausgrenzungen produzieren können, sondern ebenso wie umgekehrt vorausgesetzte Postulate der Fremdheit und Andersartigkeit zu Formen der Einverleibung führen können, in denen kulturelle Differenz gerade in ihrer Beschwörung zum Verschwinden gebracht wird. Obgleich man hier wie bei einigen der anderen Texte mit einem gewissen Unbehagen beobachtet, wie ein akademischer Diskurs angestrengt nach angemessenen oder 'politisch korrekten' Formen sucht, das (post-)koloniale Andere zu denken, zeigen die versammelten Essays ebenso den Nutzen, den solche Überlegungen weit jenseits der politisch-moralischen Selbstverständigung haben.
Dieser Nutzen liegt vor allem auf zwei Ebenen. In allen Beiträgen, besonders aber in Michel-Rolph Trouillots Text zur haitischen Revolution, in Anthony Pagdens Analyse der kolonialen Seite des frühen europäischen Nationalismus bei Diderot und Herder sowie in den generellen Überlegungen, die John L. und Jean Comaroff zur Produktion von Hegemonie in der Wahrnehmung des kolonialen Anderen entwickeln, wird deutlich, wie die Suche nach einem angemessenen nachkolonialen Blick auf die Welt immer auch um die Frage kreist, was eigentlich genau der Kolonialismus war. Es ist eben nicht der Fall - wie ein verbreitetes Vorurteil lautet - dass der Postkolonialismus immer nur nach den Spuren und Überbleibseln dessen sucht, was wir als Kolonialismus zu kennen meinen. Vielmehr stellt er ebenso die nicht unwesentliche Frage, wie der Kolonialismus überhaupt funktionierte, wie er möglich war, welche politischen und sozialen Strukturen, welche wissenschaftlichen und kulturellen Dispositive ihn prägten. Und eben dabei stellt sich immer wieder heraus, wie weit die Wahrnehmung des Außereuropäischen die europäische Kultur mitbestimmt hat, und wie falsch das hergebrachte Bild nicht nur jener außereuropäischen Welt, sondern noch mehr 'unserer' europäischen Identität ist, das sie lange als autonom und im Grunde unabhängig von ihren Peripherien beschrieben hat, als etwas, das sich allein aus seiner eigenen, so erfolgreichen wie tragischen Geschichte erklären ließe. Demgegenüber belegen die genannten Beiträge eindrücklich den strukturierenden und prägenden Einfluss des Außereuropäischen als Medium und Projektionsfläche ebenso wie als direkte Determinante europäischer Selbstverständigungsdiskurse.
Ein zweiter Effekt der Postkolonialismusdiskussion besteht darin, dass sie den europäischen Begriff der Wissenschaftlichkeit durch seine Historisierung zur Disposition stellt. Denn gerade weil sich Europa bis heute durch das Christentum einerseits und durch die Entwicklung der aufklärerischen Vernunft und des wissenschaftlichen Denkens andererseits definiert, wirft die wissenschaftliche Frage nach der kolonialen Dimension des europäischen Selbstverständnisses einen kritischen Blick auf die eigenen Grundlagen. Dieser deutet sich im vorliegenden Band zwar eher an, als dass er im Zentrum stehen würde. Doch schon die im Untertitel vollzogene Trennung zwischen Geschichts- und Kulturwissenschaften (Ist die Geschichtswissenschaft keine Kulturwissenschaft? Sind die Kulturwissenschaften keine historischen Disziplinen?) markiert die wissenschaftstheoretische Spannung im postkolonialen Diskurs. Leider wird diese zu oft und auch hier im vorschnellen Glauben, dass es den verschiedenen Disziplinen bei ihrer Behandlung des Postkolonialen doch im Grunde um das Gleiche gehe, nur selten expliziert. Doch vielleicht gibt es ja tatsächlich eine spezifisch historische Form der postkolonialen Theoriebildung, die sich nicht unbedingt mit dem, was Ethnologen, Afrikanisten oder Orientalisten darunter verstehen, decken muss. Nach der Lektüre des Bandes, so anregend diese im Einzelnen ist, bleibt jedenfalls der Eindruck einer gewissen Willkürlichkeit in der Entscheidung der Herausgeber, welche Perspektiven sie als postkoloniale ansehen und was Historiker und/oder Kulturwissenschaftler davon annehmen sollen.
Hier würde eine etwas strengere Trennung der Disziplinen (Grundvoraussetzung jeder wahren Interdisziplinarität) sicher klärend wirken. Und das nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich im angloamerikanischen Raum inzwischen auch eine breite und teilweise wohl begründete Kritik am Postkolonialismus herausgebildet hat, die nicht ohne weiteres als bloße Restauration traditioneller Ansätze anzusehen ist. In einigen der bei Conrad und Randeria wiederabgedruckten älteren Texte, etwa von Stuart Hall, finden sich auch Bezüge auf diese Kritik des postkolonialen Paradigmas; so unter anderem auch auf Arbeiten, die ihre Argumente interessanterweise aus einer dezidiert historischen Perspektive entwickeln. Die von Hall erwähnten Studien Robert Youngs etwa (doch ließen sich hier auch die in den USA heiß diskutierten Thesen Walter Benn Michaels nennen) zeigen schlüssig, in welchem Maße einige der von der postkolonialen Theorie verehrten und angeblich antikolonialen Konzepte der 'hybriden Vermischung' und 'kulturellen Vielfalt' bereits Elemente des kolonialen Diskurses im 19. und frühen 20. Jahrhundert darstellten. Dieser Befund bedeutet keineswegs eine grundsätzliche Schmälerung der postkolonialen Ansätze, aber er zeigt, dass ein zu programmatisches und zu sehr um die eigene Position kreisendes Verständnis des Postkolonialismus dazu tendiert, seinen Gegenspieler, den Kolonialismus in ein rein theoretisch entworfenes und sehr enges Korsett zu zwängen, das ihm bei näherem Hinsehen nicht passt. Je simplifizierender aber das Bild ist, das die postkoloniale Theorie vom klassischen Kolonialismus zeichnet, desto weniger überzeugend sind ihre Hinweise auf sein Weiterleben.
Zumindest aus Sicht der Geschichtswissenschaft wäre zu wünschen, dass die postkolonialen Perspektiven, die der Band von Conrad und Randeria vorstellt, nicht bloß Eingang in die Einleitungen und Vorworte kolonialgeschichtlicher Studien finden, sondern auch in der empirischen Arbeit umgesetzt und zugleich überprüft werden.
Christian Geulen