Matthias Weipert: "Mehrung der Volkskraft". Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933 (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 267 S., ISBN 978-3-506-75679-4, EUR 36,90
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"Wer in unseren Zeiten", so schrieb Bertold Brecht 1935, "statt Volk Bevölkerung sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht." Dieser Logik folgte im Jahr 2000 auch Hans Haacke mit seinem Kunstwerk im Lichthof des Berliner Reichstags: Im gleichen Schriftzug wie die außen am Reichstag zu sehende Widmung "Dem deutschen Volke" sind hier die von Pflanzen inzwischen fast überwachsenen Worte "Der Bevölkerung" zu lesen, gemeint als die 'innere' und wahre Widmung des Parlamentsgebäudes. Dieser Tausch von Worten beruht auf der immer noch weit verbreiteten Annahme, dass es nicht zuletzt der Begriff 'Volk' gewesen sei, der das deutsche Nationalbewusstsein vergiftet und in den braunen Terror getrieben habe, und dass daher 'Bevölkerung' der bessere, wahrhaft demokratische, weil neutrale Begriff sei.
Das Gegenteil ist der Fall: Der politische Begriff 'Volk' (noch bis ins 20. Jahrhundert hinein deutsche Übersetzung des Begriffs 'Nation' im Sinne von 'demos': Träger der Souveränität) wird hier ausgerechnet durch den biopolitischen Begriff der Bevölkerung ersetzt (Übersetzung von 'Population' als vorpolitischer Kollektivkörper). Was den deutschen Begriff 'Volk' anfällig für rassistische Projekte machte, war gerade seine seit der Jahrhundertwende um sich greifende Identifizierung mit der Bevölkerung, mit einer zu hegenden und zu pflegenden Population, aus der sich die Nation biologisch zusammensetze. Erst darüber wurde die politisch-demokratische Semantik des Begriffs 'Volk' vergessen. Was uns also angeblich aus den begrifflichen Fallstricken des nationalsozialistischen Ideengestrüpps hinausführen soll, führt uns mitten hinein.
Wer darüber Genaueres erfahren will, dem sei die Lektüre von Matthias Weiperts Studie zur "Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933" empfohlen. So umfassend wie umsichtig analysiert Weipert das öffentlich-politische Reden von der Bevölkerung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik anhand von Lexika sowie durch eine quantitative und qualitative Auswertung einer ganzen Reihe populärer Zeitschriften. Dabei gelingt es Weipert, den Bevölkerungsdiskurs als einen wesentlichen Transmissionsriemen zu deuten, der verschiedene Vorstellungswelten, Wissenschaften und Politikfelder miteinander verband: vom bürgerlichen Krisendiskurs der Jahrhundertwende, über die Lebensraum- und Siedlungspolitik bis zu gesundheits- und rassenpolitischen Programmen.
Überzeugend interpretiert Weipert den Erfolg des Bevölkerungskonzepts als Folge einer Sinnentleerung vor allem der klassisch-bürgerlichen Vorstellung von der Nation, die mit den Dynamiken der Modernisierung nicht mehr Schritt hielt. Die Bevölkerung (und eben nicht mehr das bloße Volk) schien demgegenüber als eine im modernen Sinne messbare und berechenbare Machtressource denkbar. Eine stabile Nation blieb weiterhin die wesentliche, "sinnverbürgende Instanz", aber eine gesunde, sich entwickelnde, zu pflegende und zu schützende Bevölkerung galt zunehmend als die entscheidende und einzige Ressource, um die Nation zu konkretisieren. Die Folge war das zunehmende Bemühen zur Umgestaltung der Bevölkerung in eine Leistungsgemeinschaft, in der das Individuum nur ein national-demographischer Faktor unter anderen war. Auf diese Weise führte das Modernisierungsversprechen, das mit dem Bevölkerungskonzept einherging, zur Entpolitisierung und tendenziell bereits zur Biologisierung dessen, was einmal als der politische Souverän in modernen Gesellschaften gedacht war.
Trotz seiner generellen Überzeugungskraft weist Weiperts Buch allerdings auch ein paar Schwächen und Leerstellen auf: So beschränkt sich die mit Verve als Methode eingeführte Diskursanalyse bisweilen auf den Versuch, die behandelten Begriffe und Konzepte (Bevölkerung, Nation, Gesellschaft, Volk, Moderne, Bürgertum etc.) säuberlich zu bestimmen, zu ordnen und ihre verschiedenen Bedeutungen verschiedenen Lagern zuzuweisen. Dabei geraten nicht selten eben die intertextuellen Verweise und Zusammenhänge aus dem Blick, die eine Diskursanalyse gerade aufzudecken verspricht. So ist etwa das Bemühen, rassistische von nicht-rassistischen Bevölkerungstheoretikern zu trennen, sinnvoll, wenn es etwa um die politische Vielfalt etwa der Weimarer Republik geht - nicht aber, wenn man die politisch übergreifende Bedeutung des Bevölkerungsdiskurses herausstellen will. Zumindest hat man bei Weipert bisweilen den Eindruck, als würde der eigentliche Gegenstand, nämlich der Bevölkerungsdiskurs, hinter den eigenen Differenzierungen verschwinden. Hier wäre etwas mehr Mut zu Foucault durchaus hilfreich gewesen.
Ein weiterer Punkt, der auffällt, ist Weiperts wiederholte Betonung, dass im Konzept der Bevölkerung vor allem das Individuum gefährdet sei. Aus der Perspektive eines klassisch-bürgerlichen Individualismus mag das so scheinen, nicht aber aus Sicht der Bevölkerungstheoretiker, wie Weipert selbst verdeutlicht, denn gerade das Konzept der Bevölkerung bedarf des Einzelnen als dem entscheidenden Faktor für die Erhaltung des Ganzen. Gerade in darwinistischer und populationstheoretischer Sicht ist der Einzelne sogar primär verantwortlich für das Wohlergehen des Ganzen. Entsprechend waren die Opfer der späteren NS-Bevölkerungspolitik aus Sicht der Täter eben niemals Individuen, sondern immer angeblich schädliche, aus der Bevölkerung auszuschließende und damit von vorneherein rechtlose Kollektive. Nicht zuletzt deshalb hat ihnen kein Menschenrecht der Welt geholfen.
Ein letzter Kritikpunkt betrifft die fast völlige Abwesenheit des Kolonialimperialismus als einem weiteren Kontext des Bevölkerungsdiskurses, der für Rassenhygiene, Eugenik und siedlungspolitische Lebensraumvorstellungen vor 1918 ebenso wie in der Weimarer Zeit von einiger Bedeutung war. Dabei hätte sich vielleicht sogar die Chance geboten, den Bevölkerungsdiskurs als eines jener inzwischen schon lange gesuchten missing links zwischen imperialistischen und nationalsozialistischen Politikformen auszuweisen.
Das aber, ebenso wie die Frage nach dem Bevölkerungskonzept in anderen Ländern, sind eher mögliche Wege der zukünftigen Forschung und keine wirklichen Schwächen der Weipertschen Studie. Vielmehr hat Weipert mit seinem Buch wohl ein für alle mal die zentrale Bedeutung des Konzepts der Bevölkerung in der politischen Rationalität zumindest der deutschen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert klar gemacht: als umfassender und fataler Versuch nämlich, das brüchig gewordene Konzept der Nation mit den Mitteln der Wissenschaft zu modernisieren. Damit lehrt Weiperts Studie zumindest implizit auch, dass die 'Bevölkerung' alles andere als eine dem 'Volk' notwendig vorzuziehende Kategorie ist - dass mithin auch die Brechts dieser Welt irren können.
Christian Geulen