Johannes Laudage (Hg.): Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, 388 S., ISBN 978-3-412-17202-2, EUR 44,80
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Vom 30. November bis zum 2. Dezember 2000 wurde an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine Tagung zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung durchgeführt, die schon im Titel an das Werk von Richard J. Evans (In defence of history, 1997, deutsch unter dem Titel: Fakten und Fiktionen, 1998) anknüpfte und damit die Perspektive vorgab: Wie soll die moderne Geschichtswissenschaft mit der Herausforderung durch Postmoderne und linguistic turn umgehen? Inwieweit kann man aufgrund der Erzählungen mittelalterlicher Historiographen (Fiktionen) auf dahinterstehende Ereignisse (Fakten) schließen? Das Thema wurde in den Vorträgen teils grundsätzlich, teils anhand von Einzelbeispielen behandelt. Dabei besteht das Verdienst der ins Allgemeinene gerichteten Beiträge weniger in Neuerkenntnissen als vielmehr in der nachdrücklichen Erinnerung an prinzipiell bekannte, aber nicht immer genügend beachtete Phänomene. Einer dieser grundsätzlichen Vorträge wurde bereits an anderer Stelle publiziert. [1]
Otto G. Oexle gibt - ohne speziell auf die Mediävistik einzugehen - einen Überblick über die divergierenden Antworten, die im Lauf des 20. Jahrhunderts (und nicht erst seit dem linguistic turn) auf die Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Geschichtswissenschaft gegeben wurden. Er endet mit der Feststellung von fünf Paradoxien, denen der Historiker unrettbar ausgeliefert ist, die aber auch als Chance begriffen werden können. Verena Epp skizziert am Beispiel von Isidor von Sevilla, Gregor von Tours und Beda (mit einem Ausblick auf das Hochmittelalter) die theologische Fundierung mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Diese sieht im tatsächlichen Geschehen immer das Wirken Gottes und sucht durch geeignete Interpretation den göttlichen Willen zu ergründen, oft durch typologische Bezüge zur biblischen Geschichte.
Rudolf Schieffer zeigt an eindrucksvollen Beispielen, wie uns manchmal gerade die interessantesten, weil individuellsten und außerhalb fester Traditionen stehenden Texte nur durch günstige Zufälle erhalten sind, während das häufig Überlieferte auch seinem Charakter nach eher Massenware ist. Wichtig ist eine solche Beobachtung vor allem zur Einschätzung der Wirkungsgeschichte historiographischer Werke und damit ihres Sitzes im Leben, also gerade dann, wenn man Geschichtsschreibung nicht als Informationsträger zu einem anderen Geschehen, sondern eben als Geschichtsschreibung betrachten möchte. Gerd Althoff verweist - wieder einmal - auf die strengen Regeln, nach denen im Mittelalter öffentliche Kommunikation mehr durch Gesten und Rituale als durch Worte ablief. Dabei ist es für die Feststellung dieser Regeln gleichgültig, ob das in einer Quelle erzählte Geschehen nun auf Fakten beruht oder Fiktion ist, werden doch auch in erfundenen Geschichten allgemeine Vorstellungen gespiegelt, die das tatsächliche Handeln der Menschen bestimmten.
Vom Übergang der Herrschaft im Frankenreich von Karl Martell auf seine älteren beiden Söhne Karlmann und Pippin 741 berichten uns vier Geschichtswerke, obwohl sie allesamt dem karolingischen Königshof nahe stehen, vier sehr unterschiedliche Versionen, in denen dem Halbbruder Grifo jeweils eine ganz unterschiedliche Rolle in der Nachfolge zugesprochen wird. Matthias Becher erklärt diese Diskrepanzen damit, die vier Autoren hätten auf unterschiedliche Weise die anstößige Tatsache zu verschleiern versucht, dass Pippin und Karlmann in der letzten Nachfolgeregelung Karl Martells gar nicht vorgekommen seien. Vielmehr habe dieser auf Betreiben seiner zweiten Frau Swanahild seinem jüngsten Sohn Grifo die Herrschaft im Gesamtreich zugedacht. Das ist gewiss eine sehr ansprechende, neue Perspektiven aufzeigende These; letztlich lässt aber das Schweigen der Quellen genügend Spielraum für andere Deutungen, darunter auch für die etablierte, Grifo habe (nur?) den gleichen Nachfolgeanspruch gehabt wie seine Halbbrüder. Dass die Nachfolgefrage letztlich keine Rechts-, sondern eine Machtfrage war, bezweifelt ohnehin niemand.
Josef Semmler stellt das geläufige Bild von der Königserhebung Pippins 751 an zwei wichtigen Punkten infrage: Erstens habe die Anfrage an Papst Zacharias nicht eigentlich der Rangerhöhung des Karolingers gegolten, sondern einem Bericht des byzantinischen Geschichtsschreibers Theophanes Confessor (gestorben 817/18) zufolge der Lösung vom Treueid, den die fränkischen Großen und damit auch Pippin dem Merowingerkönig Childerich III. geleistet hatten. Zweitens habe 751 zwar eine 'consecratio' beziehungsweise 'benedictio' zum König, aber keine Salbung stattgefunden, und die Salbung Pippins und seiner Familie durch Papst Stephan II. 754 sei keine bestätigende Königs-, sondern eine gewöhnliche (oder vielmehr im Frankenreich damals noch ungewöhnliche) Firmsalbung gewesen. Semmlers Überlegungen haben sich seither zu einer eigenen Monografie ausgewachsen. [2]
Klaus Herbers lotet das Verhältnis von Typ und Individuum in frühmittelalterlichen Papstviten aus, besonders in den darin stereotyp (aber nie identisch) vorzufindenen Tugendkatalogen. Ein Zug zur Individualisierung des Dargestellten zeige sich schon im 9. Jahrhundert (und nicht erst in der Renaissance des 12. oder 15. Jahrhunderts) an der zunehmenden Ausführlichkeit solcher Beschreibungen. Johannes Laudage berichtet, mit überaus reichen Literaturangaben und insofern besonders nützlich, über die Forschungen der letzten Jahrzehnte zu Widukind von Corvey und versucht am Schluss eine Neudatierung der Sachsengeschichte: Sie sei im Kern schon 961/62 konzipiert worden, habe aber erst 968 ihre überlieferte (später nochmals überarbeitete) Widmungsfassung erhalten, was die ursprünglichen Absichten des Autors in ein neues Licht rückt. Den mehr ins Grundsätzliche als auf das herangezogene Exempel der anekdotenreichen Pöhlder Annalen zielenden Ausführungen von Hans-Werner Goetz zufolge war vieles, was uns heute als Mythos oder Fiktion erscheint, den mittelalterlichen Geschichtsschreibern geglaubte Wahrheit. Ursache dafür ist ein grundlegend andersartiges Geschichtsbild, das die Historiker damals natürlich zu anderen Vergangenheitsrekonstruktionen gelangen ließ als die Historiker heute.
Barbara Haupt bescheinigt den deutschen Ependichtern des Hochmittelalters und ihrem Publikum eine größere Nähe zu mündlich-heroischer Überlieferung als der gleichzeitigen heilsgeschichtlich orientierten Geschichtsdichtung. Manfred Groten widmet sich zwei volkssprachigen historischen Dichtungen aus Holland und Köln und zeigt an ihnen Charakteristika der - als solche schwer abzugrenzenden - Gattung auf: die Ausrichtung auf ein (höfisches oder städtisches) Laienpublikum, die Unterhaltungsfunktion und den belehrenden Zweck. Gemeinsam helfen diese Aspekte, das andersartige Verständnis von historischer Wahrheit zu erklären, das solche Dichtungen in unseren Augen oft als reine Fabelei erscheinen lässt. Indirekt kann man mithilfe derartiger Werke immerhin das Geschichtsbild auch der illiteraten Schichten erahnen.
Nicht ein verändertes Geschichtsbild, sondern ein seit Giotto revolutionierter (künstlerischer) Bildbegriff ist Hans Körner zufolge der Grund, weshalb seit Beginn des 14. Jahrhunderts auf italienischen Grabmälern eine neue Art von Historienbildern zu sehen ist. Johannes Helmrath behandelt fünf aus Italien stammende humanistisch gebildete Historiker des späten 15. Jahrhunderts, die das Seziermesser an altüberlieferte Ursprungsmythen setzten und im Gegenzug allenthalben autochthone Völkerschaften zu entdecken vermeinten: die Etrusker in der Toskana, die Germanen in Deutschland, die Gallier in Frankreich und die Kelten in England. Wilhelm Busse wendet sich aufgrund von Beobachtungen an der um 1327 gereimten englischen Chronik des mysteriösen Thomas Castleford gegen strenge Gattungsbegriffe, besonders da diese in aller Regel von der lateinischen Gelehrtenliteratur ohne weiteres auf die volkssprachliche Dichtung übertragen wurden. Das "Stufenbuch" von circa 1560 schließlich, das in 17 Stufen - entsprechend den 17 Herrschergenerationen seit Vladimir I. - die Erfolgsgeschichte des Moskauer Fürstentums erzählt, ist Gegenstand der Betrachtungen von Hans Hecker, der das Werk der "Moskauer Staatspublizistik" Ivans des Schrecklichen zuordnet und seine propagandistische Absicht herausstreicht.
Dass am Ende dieses Buchs keine Zusammenfassung steht, ist symptomatisch. Ein Zeitraum von tausend Jahren sollte abgedeckt, Texte aus ganz Europa mussten behandelt werden, der Begriff der Geschichtsdarstellung wurde mit dem Einschluss von Epenliteratur und Grabmälern so weit wie nur irgend möglich aufgefasst: Unter diesen Vorgaben konnten die 15 Beiträge gar nichts anderes leisten, als verstreute Einzelpunkte zu beleuchten, und da sie zudem in sehr unterschiedlicher Weise (oder gar nicht) auf das Generalthema der Fakten und Fiktionen eingegangen sind, entziehen sich die im Einzelnen durchaus wertvollen, letztlich aber ganz disparaten Beobachtungen jeder Synthese, sei es durch den Herausgeber oder durch den Rezensenten. Nicht einmal ein Register wurde dem Band beigegeben.
Anmerkungen:
[1] Johannes Fried: Erinnerung und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), 561-593.
[2] Josef Semmler: Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung, Düsseldorf 2003, wo das erste Kapitel weitgehend identisch ist mit dem Tagungsbeitrag.
Roman Deutinger