Muzej i obščestvennyj centr imeni Andreja Sacharova (Hg.): Kniga dlja učitel'ja. Istorija političeskich repressij i soprotivlenija nesvobode v SSSR. [Lehrerhandbuch. Geschichte der politischen Verfolgung und des Widerstandes gegen die Unfreiheit in der UdSSR], Moskau: Izdatel'stvo ob"edinenija "Mosgorarchiv" 2002, 512 S., Volltextversion im Internet, unter: http://memory.sakharov-center.ru/tb/0main.asp, ISBN 978-5-7228-0107-4
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Gottfried Oy / Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, 2. korrigierte Auflage, Münster: Westfälisches Dampfboot 2014
Als die Aufbruchsstimmung von Glasnost und Perestrojka zu verdämmern begann und die Mühen und Lasten des Umbruchs drückender wurden, begann sich in Russland Nostalgie breit zu machen. Schon Anfang der 90er-Jahre betrauerte der bekannte Filmregisseur Stanislav Govoruchin "Das Rußland, das wir verloren haben" in einem aufsehenerregenden Dokumentarfilm. Die weniger sympathischen Züge der Ära Zar Nikolaus' II. waren dabei allerdings unter den Schneidetisch gefallen. Bald richtete sich die Nostalgie dann auch auf die Sowjetepoche, und das keineswegs nur bei den Kommunisten. Das bezeichnendste Beispiel hierfür ist die neue Nationalhymne der Russischen Föderation, für die die Melodie der alten Sowjethymne von 1944 herangezogen wurde. Reaktiviert wurde auch der Texter, der seinerzeit die Elogen auf Stalin gereimt hatte. Sergej Michalkov hat erneut die 'lyrics' geliefert, eine Ode auf "Rußland, unseren heiligen, mächtigen Staat". In der Duma fand das Projekt im Dezember 2000 eine große Mehrheit, nachdem am Vorabend der Entscheidung Präsident Putin seine Bürger dazu aufgerufen hatte, sich stolz zur ganzen Geschichte des Landes zu bekennen.
Das indes geht - nicht nur in Russland - umso leichter, je weniger man die Geschichte kennt. Umso schwerer jedoch wird zugleich der - dort vor gut 15 Jahren begonnene - Abschied von der totalitären Vergangenheit. Dass die Entstehung eines Staates, in dem die Menschenrechte uneingeschränkt respektiert werden, ein klares und illusionsloses Bild von dieser Vergangenheit voraussetzt, ist eine Grundüberzeugung, die Organisationen wie Memorial, Vozvraščenie [Wiederkehr] oder das gegenüber dem einstigen Moskauer Wohnhaus des Friedensnobelpreisträgers gelegene Sacharow-Zentrum eint. Sie setzen auf Aufklärung. Das ist in der gegenwärtigen geschichtspolitischen Landschaft Russlands sicherlich kein einfaches Geschäft, und es wird auch in den dafür eigentlich bestimmten Bildungsstätten zumeist höchst unzureichend betrieben. Jedenfalls hat, so der Direktor des Sacharow-Zentrums, Jurij Samodurov, im Vorwort des hier vorzustellenden Bandes, eine Analyse der zwischen 1991 und 2001 erschienenen Schulgeschichtsbücher ergeben, dass die Geschichte der politischen Verfolgung in der UdSSR darin nur sehr fragmentarisch präsent ist. Mit seinem "Lehrerhandbuch. Geschichte der politischen Verfolgung und des Widerstandes gegen die Unfreiheit in der UdSSR" will das Sacharow-Zentrum hier einen Gegenakzent setzen.
Man darf sich von dem in der deutschen Übersetzung etwas bieder nach studienrätlicher Handreichung klingenden Titel nicht täuschen lassen: Dem Zentrum ist es gelungen, für sein Projekt einige der profiliertesten russischen Zeithistoriker zu gewinnen. So schreibt Oleg Chlevnjuk, dessen Studie über das Politbüro in dieser Periode auch in deutscher Sprache publiziert worden ist, über die 30er-Jahre, Galina Ivanova über die rechtlichen Grundlagen der Verfolgungspolitik und über das Leben im GULag. Ihre Monografie über das sowjetische Lagersystem ist auch in Englisch und Deutsch erschienen. Auch Gennadij Kostyrčenko hat sich mit seinen Studien über den stalinistischen Antisemitismus über Russland hinaus einen Namen gemacht. Er hat das Kapitel über Kriegszeit, Spätstalinismus und frühe Entstalinisierung übernommen. Alexander Daniėl, der das Forschungsprogramm von Memorial über die Dissidentenbewegung leitet, hat im "Lehrerhandbuch" das entsprechende Kapitel verfasst. Insgesamt umfasst das Autorenteam neun Wissenschaftler, die in sieben Kapiteln und einer Schlussbetrachtung ein Kompendium der russisch-sowjetischen Repressionsgeschichte erarbeitet haben, das sich durchweg auf der Höhe der Forschung bewegt.
Am ehesten lässt sich das "kniga dlja učitelja" mit Nicolas Werths Buch "Ein Staat gegen sein Volk" vergleichen, das zuerst im Rahmen des "Schwarzbuchs des Kommunismus" erschien und diesem etwas uneinheitlichen Sammelwerk sein eigentliches Rückgrat gab. Allerdings gibt es charakteristische Unterschiede. Während Werth die Zeit von der Oktoberrevolution bis zum Tod Stalins untersucht, setzt das "kniga dlja učitelja" früher ein, nämlich mit der Ära Nikolaus' II., und endet später, nämlich Mitte der 80er-Jahre. In diesem weiteren chronologischen Rahmen steckt auch ein konzeptioneller Unterschied, denn das "Lehrerhandbuch" eröffnet auch die Perspektive auf das autoritäre System der zaristischen Herrschaft, die der Entwicklung einer "russischen Zivilgesellschaft" nie eine wirkliche Chance gegeben hat - ein Faktor, ohne den die Entstehung des sowjetischen Totalitarismus nicht zu verstehen ist. Und im Schlusskapitel einer Darstellung der sowjetischen Dissidentenbewegung von den späten 50er- bis zu den 80er-Jahren werden die eigenständigen und freiheitsliebenden Kräfte ins Zentrum der Betrachtung gestellt. Auch in den vorangehenden Abschnitten wird stets das Augenmerk auch auf jene gerichtet, die sich den Ansprüchen der Herrschaft nicht unterwarfen, etwa die Hunderttausende von Bauern, die sich gegen die Kollektivierung wehrten, oder die nicht wenigen einzelnen, die sich weigerten, die fantastischen Beschuldigungen zu glauben, die gegen die Opfer des Großen Terrors der Jahre 1937/38 gerichtet wurden, oder jene Menschen, denen aus der Erfahrung, unter schwersten Bedingungen den Angriff des nationalsozialistischen Deutschland abgewehrt zu haben, ein größeres Selbstbewusstsein und Freiheitsbedürfnis zuwuchs. Unter den Bedingungen des Hochstalinismus konnte solcher Widerstand natürlich keine politisch organisierte Form annehmen. Nach dem Krieg wurden in einer Art "Restalinisierung" der Gesellschaft alle tatsächlichen und - charakteristisch für das stalinistische Unterdrückungssystem - vor allem alle potenziellen Gegner des Regimes mit den bekannten Mitteln unterdrückt. Dabei bekam die Repression eine zunehmend antisemitische Tönung.
Obwohl nie eine konsolidierte Gegenbewegung gegen Stalins Regime entstand, waren die Erscheinungen von Widerstand und Resistenz nach Einschätzung Kostyrčenkos von erheblicher Bedeutung dafür, dass sich das System nach Stalins Tod in begrenztem Maße liberalisierte. In jedem Falle widersprechen sie dem verbreiteten Klischee von der russischen Passivität und Leidensbereitschaft. Dennoch verfügte das Regime natürlich über großen Rückhalt bei den Massen, ebenso gab es überreichliche Denunziationsbereitschaft. Aber, so ein interessanter Befund Chlevnjuks, die Tschekisten machten im Großen Terror wenig Gebrauch davon. Sie verließen sich bei ihrer operativen Arbeit lieber auf ihre eigenen Dossiers und auf die passgenau dazu erpressten und erfolterten "Geständnisse". Gegen die verbreitete These, der Terror habe vor allem Angehörige der herrschenden Elite getroffen, führt Chlevnjuk die Aktionen gegen so genannte "konterrevolutionäre nationale Kontingente" an sowie sozialstatistische Befunde, die für eine Reihe von Städten vorliegen: Mit Abstand am häufigsten sind unter den Opfern dabei stets Arbeiter, Bauern und Angestellte vertreten.
Das "kniga dlja učitelja" ist, ein weiterer Unterschied zu Werths Buch, zugleich ein Quellenwerk. Zur Vertiefung und Illustration jedes Kapitels werden jeweils einige Quellentexte bereitgestellt und in einer weiteren Abteilung Fragen zu deren Analyse präsentiert, didaktische Aspekte der Themen angesprochen sowie ergänzendes dokumentarisches Material abgedruckt. Insgesamt ist es damit ein hervorragendes Arbeitsbuch, nicht nur für engagierte russische Lehrer, sondern etwa auch für die universitäre Lehre in Deutschland. In seiner Internetversion ist es ohne weiteres greifbar.
Jürgen Zarusky