Senek Rosenblum: Der Junge im Schrank. Eine Kindheit im Krieg. Unter Mitarbeit von Monika Köpfer, Gütersloh: Bertelsmann 2009, 395 S., EUR 17,95
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Ungefähr ein Viertel der Todesopfer des Holocaust waren Kinder. Weil sie Hunger und Strapazen weniger gewachsen, auf Erwachsene angewiesen und als Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft meist nicht tauglich waren, waren ihre Überlebenschancen schlecht, ganz besonders in Polen. Von einer Million jüdischer Kinder im Vorkriegspolen lebten dort am Kriegsende noch etwa 5.000, also ein halbes Prozent. [1] Einige werden mit den Eltern in die Sowjetunion entkommen sein, aber mit Sicherheit waren das weit unter zehn Prozent. Nur sehr wenige jüdische Kinder im besetzten Polen konnten gerettet werden. Zu ihnen gehört Senek Rosenblum, der jetzt, im Alter von über 70 Jahren, seine Erinnerungen publiziert hat. Dass sie vom Verlag als "Roman" präsentiert werden, ist ein unglückliches Versehen - tatsächlich handelt es sich um authentische Memoiren. [2]
Rosenblum wurde 1935 als Sohn eines Getreidehändlers im polnischen Żychlin geboren, das nach der deutschen Eroberung zur östlichsten Stadt des sogenannten Warthegaus wurde. Für die Rosenblums wie für alle Juden der Stadt bedeutet das Gettoisierung und Verelendung. Senek muss den Hungertod einer Spielkameradin erleben. Der Vater, vom Autor als ungemein tüchtiger und wendiger Mann beschrieben, ausgestattet mit den Erfahrungen nicht nur des Händlers, sondern auch eines Unteroffiziers der polnischen Armee, erreicht eine Vermittlerstellung gegenüber den Besatzungsbehörden. Die Wege des Vaters sind für den kleinen Sohn natürlich nicht durchschaubar, aber immer wieder sind dies die für ihn, und für ihn allein, rettenden Wege. Im Warthegau begann der Massenmord früher als im Generalgouvernement. Seit Dezember 1941 wurden vor allem die Bewohner der kleineren Gettos in das Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno) abtransportiert. Rosenblum senior hat dank seiner guten Beziehungen rechtzeitig Wind von dem Unheil bekommen, das auch den Juden von Żychlin droht. In dieser Situation erscheint das Warschauer Getto mit seiner nach Hunderttausenden zählenden Bevölkerung als eine rettende Zuflucht. Der Weg dorthin indes ist schwierig. Die Mutter ist nierenkrank, ihre zur Kernfamilie hinzugestoßene Mutter ist alt, es herrscht eiskaltes Winterwetter, überall sind die Verfolger und schließlich muss die Grenze zum Generalgouvernement überwunden werden. Die Schleuser, derer man sich dabei bedient, verlangen viel Geld und erweisen sich dann als Betrüger. Der erschöpfende Marsch hat die Mutter die letzten Kräfte gekostet. Sie beschließt, dass Vater und Sohn sich allein auf den Weg machen sollen, Mutter und Großmutter bleiben zurück. Senek Rosenblum nennt diese Reise die schlimmste seines Lebens. Obwohl noch keine sieben Jahre alt, versteht er, dass der Abschied von der Mutter für immer ist. Nach dieser dramatischen mehrwöchigen Winter-Odyssee gelingt es Vater und Sohn schließlich, im Warschauer Getto unterzutauchen, wo die Familie des Bruders lebt. Rosenblum schildert diese extreme "Lebens"-welt und das Verhalten der Menschen seiner Umgebung im alltäglichen Überlebenskampf aus der Perspektive eines Kindes. Dazu gehört der Kampf um Anerkennung unter den Spielkameraden auf dem Hof und die ersten angeberisch-kennerhaften Gespräche über Frauen, wie sie unter Jungs überall üblich sind. Aber zu Rosenblums kindlicher Lebenswelt gehören eben auch die Beobachtung einer Hinrichtung auf dem Hof, der ans berüchtigte Pawiak-Gefängnis grenzt, Unterricht bei einer Lehrerin und die Leichen Verhungerter auf dem Weg zu ihrer Wohnung. "Was für Parallelwelten erleben wir Buben", schreibt Rosenblum (149).
Nach einer Phase tiefer Erschöpfung und Trauer wird Rosenblums Vater bald wieder aktiv und steigt ins Schmuggelgeschäft an der Gettomauer ein. Erneut erweisen sich seine Findigkeit und die Fähigkeit Kontakte zu knüpfen als lebensrettend; er kann die ganze Familie und noch weitere Menschen aus dem Getto schmuggeln. Senek wird bei "Tante Irka" bzw. in deren Schrank untergebracht. Sie ist die Tochter der polnischen Schmuggelpartnerin und Geliebten seines Vaters. Die Präzision der Beschreibung von Enge und Angst, die Rosenblum als verstecktes Kind erlebte, aber auch der Anspannung in der engen Wohnung, die Irka mit ihrem zur Trunksucht neigenden Mann Lutek teilt, machen in beklemmender Weise die Gefahren deutlich, die von solchen Alltäglichkeiten ausgehen konnten wie dem Gang zur Toilette auf dem Korridor oder einem lautstarken Wutschrei eines Kindes, dem eine Zeichnung nicht gelingt. Unhaltbar wird die Situation, als Senek von unerklärlichen Krankheitssymptomen bis hin zu Bewegungsstörungen befallen wird und als er Irka von einem Selbstmordversuch abbringt und sein Geschrei auffällt. Auch in dieser Phase, in der er seinen Vater nur ganz wenige Male sieht, ist dessen indirekte Präsenz immer wieder spürbar. Schließlich bringt dieser ihn bei einem Bauern unter, und als dort die Situation unhaltbar wird, bei einer alten Frau im Warschauer Vorort Praga. Dort gerät Senek in eine Art Straßenkinderexistenz, immer auf der Suche nach Möglichkeiten des Nahrungserwerbs und das auch noch nach dem rettenden Einmarsch der Roten Armee. "Von wegen Marschmusik und Blumen, wie wir uns die Befreiung in Praga erträumten!" (349)
Der nüchtern-realistische, von jeglicher Verklärung freie Blick Rosenblums bildet eine große Stärke seines Buches. "Als Siebzigjähriger fordere ich mein eigenes Ich mit Sieben Jahren auf, das Unbeschreibliche zu beschreiben", beschreibt Rosenblum sein "persönliches Dilemma von heute". (155) Aber er hat es verstanden, eine Stärke aus diesem "Dilemma" zu machen. In seiner Darstellung kommen die unverstellte Wahrnehmung des Kindes und die Lebensklugheit des alten Mannes zusammen, ohne dass sich die Perspektiven vermischen. In seiner Rettungsgeschichte sind die opferbereite Liebe der Mutter und die unverbrüchliche Liebe des Vaters zum Sohn von zentraler Bedeutung, außerdem auch die Liebe von dessen lebenstüchtiger Geliebten, die auch das Herz des kleinen Senek gewonnen hatte. Dieser Beziehung, so Rosenblum, verdanke er so etwas wie eine zweite Geburt. Aber die Rettung verdankt er auch einer ganzen Kette offener oder versteckter "Deals", die er mit der Erfahrung eines gereiften Menschenkenners offenlegt, ohne die Beteiligten zu denunzieren. Und er verdankt sie einer Erfahrung die viele Holocaust-Überlebende betonen, einer Vielzahl glücklicher Fügungen, die halfen, der mörderischen Verfolgung zu entgehen. Überlebt haben Senek Rosenblum, sein Vater und sein Onkel.
Den Zugang zum Verständnis der Lebenswelt polnisch-jüdischer Kinder im Holocaust eröffnen im Wesentlichen die wenigen Berichte von Überlebenden. In Polen hat die Zentrale Jüdische Historische Kommission unmittelbar nach dem Krieg Aussagen solcher Kinder gesammelt, von denen erst unlängst eine Auswahl in deutscher Sprache erschienen ist. [3] Der amerikanische Romancier Louis Begley, der unter falscher Identität als Pole überlebte, hat seine Erinnerungen in Romanform verarbeitet ("Wartime Lies", dt. "Lügen in Zeiten des Kriegs", 1996). Die israelische Sinologin Irene Eber, die fast zwei Jahre versteckt in einem Hühnerstall verbracht hat, reflektiert in ihrem Buch über ihre Kindheit als jüdisches Mädchen in Polen 1939 bis 1945 stets auch die Grenzen des eigenen Erinnerungsvermögens und Grenzen der Geschichtswissenschaft bei der Wahrnehmung der Verfolgungserfahrung. [4] Senek Rosenblums flüssig geschriebene Erinnerungen eröffnen in dieser Reihe noch einmal neue, ganz eigene Perspektiven - ein ebenso aufschlussreiches wie bewegendes Zeugnis.
Anmerkungen:
[1] Alfons Kenkmann / Elisabeth Kohlhaas: Überlebenswege und Identitätsbrüche jüdischer Kinder in Polen im Zweiten Weltkrieg, in: Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948, hg. von Alfons Kenkmann / Elisabeth Kohlhaas / Feliks Tych / Andreas Eberhardt, Berlin 2008, 15-67, hier 37.
[2] Nachtrag: In der inzwischen, weniger als ein Jahr nach der Erstausgabe erschienenen zweiten Auflage hat der Verlag den Fehler korrigiert.
[3] Vgl. Anm. 1.
[4] Irene Eber: Ich bin allein und bang. Ein jüdisches Mädchen in Polen 1939-1945, München 2007, 73.
Jürgen Zarusky