Wolfram Wette / Detlef Vogel (Hgg.): Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und "Kriegsverrat". Unter Mitarbeit von Ricarda Berthold und Helmut Kramer. Mit einem Vorwort von Manfred Messerschmidt, Berlin: Aufbau-Verlag 2007, 507 S., 30 Abb., ISBN 978-3-351-02654-7, EUR 24,95
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Sarah Schädler: "Justizkrise" und "Justizreform" im Nationalsozialismus. Das Reichsjustizministerium unter Reichsjustizminister Thierack (1942-1945), Tübingen: Mohr Siebeck 2009
Einen "Appell an den Gesetzgeber" nennt Manfred Messerschmidt, der Nestor der deutschen Militärgeschichtsschreibung, in seinem Vorwort die Dokumentation "Das letzte Tabu". Das in Rede stehende Tabu sehen die Herausgeber darin, dass in dem 1998 verabschiedeten und 2002 novellierten "Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege" (NS-AufhG) zwar die Entscheidungen des Volksgerichtshofes, der Standgerichte sowie gerichtsunabhängig Urteile aufgehoben werden, die auf insgesamt 59 nationalsozialistischen Strafnormen beruhen, nicht jedoch Entscheidungen gemäß Paragraf 57 Militärstrafgesetzbuch, dem sogenannten Kriegsverrat. Ziel des Buches ist es, zu zeigen, dass damit zahlreiche widerständige Soldaten rechtlich diskriminiert werden, weil hier für eine Rehabilitierung nach wie vor eine Einzelfallprüfung erforderlich ist. Wette und seine Mitstreiter ordnen den "Kriegsverrat" und seine Nichtaufhebung ein in die lange Geschichte der über 1945 fortdauernden Abstempelung von Widerständlern - insbesondere solchen aus der politischen Linken und unteren sozialen Schichten - als "Verräter", deren Verhalten keine Anerkennung verdiene. Helmut Kramer veranschaulicht das beispielhaft am Verhalten der Staatsanwaltschaft Lüneburg gegenüber der unmittelbar nach Kriegsende erstatteten Strafanzeige des früheren preußischen Kultusministers Adolf Grimme und anderer Überlebender der "Roten Kapelle" gegen ihren einstigen Ankläger Manfred Roeder. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg lieferte 1951 eine über tausendseitige Vorlage für eine Einstellungsverfügung, deren Aussagen und Tonlage Roland Freisler in der Hölle ein zufriedenes Grinsen entlockt haben müssen. Wette kommt zu dem Schluss, "dass die meisten Fälle von 'Kriegsverrat' politisch oder moralisch/ethisch motiviert waren" und sieht daher die Nichtaufhebung dieser Urteile in einer Linie mit der langjährigen Diskriminierung von Opfern der NS-Justiz. Die von der Bundesjustizministerin 2006 bekräftigte Gegenposition geht hingegen davon aus, es sei nicht auszuschließen, dass als "Kriegsverrat" auch Taten verurteilt wurden, bei denen es um die Gefährdung des Lebens einer Vielzahl von Soldaten ging.
Der in Paragraf 57 des Militärstrafgesetzbuches definierte "Kriegsverrat" war kein eigenständiger Straftatbestand, sondern nahm Bezug auf den Paragraf 91 b des Strafgesetzbuches. Diese 1934 eingeführte, zum Komplex "Landesverrat" gehörige Bestimmung über die "Feindbegünstigung" stellte es unter Strafe, während eines Krieges oder in Beziehung auf einen drohenden Krieg "der feindlichen Macht Vorschub" zu leisten oder "der Kriegsmacht des Reiches oder seiner Bundesgenossen einen Nachteil zuzufügen". Der ominöse Paragraf 57 lautete kurz und knapp: "Wer im Felde einen Landesverrat nach Paragraf 91 b des Strafgesetzbuchs begeht, wird wegen Kriegsverrats mit dem Tode bestraft." Das Spezifische am "Kriegsverrat" war also, dass er Militärangehörige betraf und das Strafmaß zwingend auf die Todesstrafe festlegte. Die extreme Strafandrohung und die äußerst unbestimmten und weit auslegbaren Tatbestandsmerkmale des Paragraf 91 b StGB machten den Paragraf 57 des Militärstrafgesetzbuches zu einem nationalsozialistischen Mustergesetz. Eine "weite Auslegung" der ohnehin schon wenig scharf umrissenen Bestimmungen forderte in seinem MStGB-Kommentar der Militärjurist Erich Schwinge, nach dem Krieg langjähriger Dekan der juristischen Fakultät der Universität Marburg und bis in die 1990er Jahre hinein einer der aktivsten Apologeten der nationalsozialistischen Militärjustiz.
"Das letzte Tabu" veranschaulicht anhand von 39 Fallakten die Breite des als "Kriegsverrat" sanktionierten Handelns. Wolfram Wette stellt in einer knappen Einleitung die Rechtspraxis der NS-Zeit vor und gibt an späterer Stelle zusammen mit Ricarda Bertold eine Übersicht über die Fallgruppen. Einen großen Anteil haben dabei Fälle von politischem Widerstand. Dokumentiert sind etwa Urteile gegen Mitglieder der "Roten Kapelle" und eine Reihe österreichischer Kommunisten. Mehrfach geht es um Unterstützung für Kriegsgefangene, etwa in dem Falle des Jesuiten Robert Albrecht, der im Stalag III D als Dolmetscher für die britischen Kriegsgefangenen diente und sich gegen die völkerrechtswidrige Praxis wandte, die Araber unter ihnen zu lebensgefährlichen Spionagediensten für das Deutsche Reich anzuwerben, und der auch das Verhungernlassen russischer Kriegsgefangener beklagte. Dokumentiert werden ferner der Fall eines Soldaten, der 1944 dreizehn Juden aus Ungarn, wo Eichmanns Mörderkommando am Werk war, nach Rumänien schmuggeln wollte, außerdem Versuche, zu gegnerischen Partisanen überzulaufen, aber auch die Verurteilung eines Wehrmachtangehörigen, der in Krakau der "feindlichen Kriegsmacht Vorschub leistete", indem er versuchte, zwei Pistolen gegen ein Paar Damenstiefel einzutauschen und dabei an V-Leute der Polizei geriet. Besonders bemerkenswert ist ein Rundschreiben des Chefs des Heerespersonalamts im OKH, General Burgdorf, vom 2. August 1944, in dem über das in Abwesenheit ergangene Todesurteil des Reichskriegsgerichts gegen General Walther von Seydlitz wegen seiner Beteiligung am "Nationalkomitee Freies Deutschland" informiert und erklärt wird, "dass jeder Soldat, der sich in den Dienst des Feindes stellt, sein und seiner Familie Leben verwirkt hat" (268). Darüber seien alle Soldaten zu informieren.
Unter den wiedergegebenen Dokumenten dominieren Urteile des Reichskriegsgerichts, darunter, was in der Regel auch kenntlich gemacht wird, 18 zuerst in der vom Rezensenten gemeinsam mit Hartmut Mehringer erarbeiteten Mikrofiche-Edition "Widerstand als 'Hochverrat' 1933 - 1945" veröffentlichte Fälle. [1] In diesen Fällen war der vom NS-AufhG erfasste "Hochverrat" der ausschlaggebende Urteilsgrund. Diese Urteile eignen sich aber wenig zur Illustration eines "letzten Tabus", weil sie durch das Gesetz bereits aufgehoben sind. Denn dessen Paragraf 3 sieht bei Verurteilungen, die sich auf mehrere Strafvorschriften stützen, eine Gesamtaufhebung vor. Doch auch bei der Mehrzahl der verbleibenden Beispiele geht es um widerständiges Verhalten - und um Urteile von erschreckender ideologisch bedingter Brutalität. Neben dem Reichs- waren auch die Feldkriegsgerichte mit dem Kriegsverrat befasst. Während die nicht sehr umfangreiche Rechtsprechung des Reichskriegsgerichts in KV-Sachen einigermaßen gut überschaubar ist, sind die im Militärarchiv in Freiburg lagernden rund 180.000 Fallakten der Feldkriegsgerichte bisher weder eingehend erschlossen noch untersucht. Die Aufhebungsdebatte bezieht sich daher in erheblichem Maße auf gegensätzliche Mutmaßungen darüber, was in dieser Aktenmasse noch zu finden sein könnte.
Ob es nun wirklich ein "letztes Tabu" aufzuheben gilt, beschäftigt auch den deutschen Bundestag. Infolge eines Antrags der Fraktion der 'Linken' wurde das Thema im Mai 2007 im Plenum und ein Jahr später bei einer öffentlichen Expertenanhörung des Rechtsausschusses behandelt, ohne dass es bisher zu einer endgültigen Entschließung gekommen wäre. [2] Im Rechtsausschuss war das hier besprochene Buch ein ständiger Bezugspunkt. Rolf-Dieter Müller, Wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, und Sönke Neitzel, Militärhistoriker von der Universität Mainz, bezweifelten unter Hinweis auf die nicht ausgewerteten Akten der Feldkriegsgerichte die Repräsentativität der von Wette/Vogel angeführten Fälle und führten insgesamt vier konkrete Gegenbeispiele an. Müller verwies außerdem auf nicht näher spezifizierte Kommandounternehmen von NKFD-Anhängern, die in deutscher Uniform durchgeführt wurden. Allerdings gab es unter den angeführten Beispielen nur eine tatsächliche Verurteilung wegen Kriegsverrats (und Desertion), denn - wie sich später herausstellte - der von Müller als moralisch besonders verwerfliches Beispiel angeführte General Feuchtinger war nicht wegen Kriegsverrat, sondern wegen Wehrkraftzersetzung verurteilt worden - und damit durch das Aufhebungsgesetz bereits rehabilitiert. [3] Neitzel wiederum führte als Beleg für die These, Kriegsverrat habe den Tod deutscher Soldaten zur Folge haben können, zwei Fälle von Überläufern an, die Briten und Amerikanern wertvolle militärische Informationen übermittelt und diesen damit erfolgreiche Angriffsoperationen ermöglicht hatten. Allerdings haben die Betreffenden nie vor einem deutschen Kriegsgericht gestanden; die Einstufung ihres Verhaltens als "Kriegsverrat" erfolgte durch den Experten. Auf ein ähnliches Vorgehen trifft man auch bei Wette, der "Fälle von unentdecktem Kriegsverrat" anführt (35ff.). Ob es die Aufgabe des Historikers sein kann, das justiziell nicht geahndete Verhalten von deutschen Militärangehörigen des Zweiten Weltkriegs unter die Normen des Militärstrafgesetzbuchs zu subsumieren, kann man indes bezweifeln, zumal für Nichtverurteilte die Aufhebung von Urteilen ohnehin irrelevant ist.
Wissenschaftlich führt der Versuch, den noch sehr unvollständigen Kenntnisstand über die Justizpraxis hinsichtlich des "Kriegsverrats" durch jeweils "geeignete" Beispiele zu kompensieren, nicht weiter. Wenn man es genau wissen wollte, müsste man an die 180.000 nicht erschlossenen Feldkriegsgerichtsakten heranziehen, von denen Wette annimmt, dass sie nicht mehr als ein Prozent Kriegsverratsfälle enthalten. Dieses Aktenstudium, so wenden die Befürworter der Pauschalaufhebung ein, könne Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Und es liefe natürlich letztlich auf die Einzelfallprüfung hinaus.
Manches an der Debatte mutet paradox an. So ist die eigentliche Strafnorm, der Paragraf 91 b des Reichsstrafgesetzbuches aufgehoben und dem Paragraf 57 MStGB damit die Grundlage entzogen. "In welchen Wolken unseres Rechtshimmels schwebt diese Vorschrift?", fragte Manfred Messerschmidt im Rechtsausschuss, ohne eine Antwort zu erhalten. Ferner kann das Argument der Gefährdung deutscher Soldaten, das gegen eine Pauschalaufhebung angeführt wird, natürlich auch für zivile Spione gelten. 1943 verurteilte der Volksgerichtshof unter Freisler einen Oberschlesier zum Tode, der von 1924 bis 1928 für den polnischen Nachrichtendienst gearbeitet hatte, und begründete dies u.a. damit, dass die weitergegebenen Informationen möglicherweise in ihrer Fortwirkung 1939 im Polenkrieg deutschen Soldaten das Leben gekostet hätten. [4] Dieses Urteil ist, wie sämtliche Urteile des Volksgerichtshofs, aufgehoben, darunter auch eine ganze Reihe von Entscheidungen in Spionagefällen, bei denen finanzielle Motive ausschlaggebend waren. Hier war für den Gesetzgeber offenbar die mangelnde Rechtsstaatlichkeit des schon 1985 vom Bundestag als Terrorinstrument eingestuften Volksgerichtshofs ausschlaggebend. Bei der Militärjustiz stand es indes mit der Rechtsstaatlichkeit nicht viel besser. Letzten Endes ist es sehr fraglich, ob es eine juristisch astreine Aufarbeitung der Justiz des nationalsozialistischen Unrechtsstaats überhaupt geben kann. Hier sind politische Entscheidungen gefragt. Was den Kriegsverrat betrifft, lauten die Alternativen: Pauschale Aufhebung mit der Gefahr "echte" Verräter zu rehabilitieren (wie das für die zivile Gerichtsbarkeit schon geschehen ist) oder Beibehaltung der Einzelfallprüfung mit der Gefahr, dass möglicherweise Widerstandskämpfer oder Judenhelfer auf unbestimmte Zeit hinaus als verurteilte Straftäter geführt werden. Da eine solche Weitergeltung nationalsozialistischen Unrechts von keinem rechtlich denkenden Deutschen gewünscht werden kann, stehen im Grunde die Gegner der Pauschallösung verstärkt in der Pflicht, das zu tun, was sie bisher weitgehend deren Befürwortern überlassen haben, nämlich die Geschichte der als "Kriegsverräter" verurteilten Gegner des NS-Regimes aufzuarbeiten.
Anmerkungen:
[1] Widerstand als "Hochverrat" 1933-1945. Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht, Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte bearbeitet von Jürgen Zarusky und Hartmut Mehringer, München 1994-1998, seit 2006 auch im Rahmen der Online-Datenbank "Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933-1945" des K. G. Saur-Verlags zugänglich. Wette moniert, dass in der Einleitung zum Erschließungsband Kriegsverrat nicht eigens behandelt wurde und meint, die Frage, ob das auf eine "unterschiedliche politische Bewertung dieser Tatbestände" zurückzuführen sei, müsse offen bleiben (26). Tatsächlich ist die Frage leicht zu beantworten: Der Zuschnitt der Edition auf den "Hochverrat" erklärt sich - wie auch in der Einleitung dargelegt wird - daraus, dass der Hochverratstatbestand schon in der Frühzeit des NS-Regimes so umformuliert worden war, dass damit jegliche organisierte Form von politischen, d.h. auf den Sturz des Regimes gerichteten Widerstandes erfasst werden konnte. Diese Definitionen beinhalten keinerlei Wertung oder gar Abwertung von anderen Formen des Widerstandes. Kriegsverrat wird in der Einleitung im Abschnitt über die dem Hochverrat "benachbarten" Straftatbestände nicht erörtert, weil es sich nicht um eine eigenständige Strafnorm handelte, sondern nur um die strafverschärfte Übertragung der "Feindbegünstigung" ins Militärstrafgesetzbuch. Die "Feindbegünstigung" als Teil des Landesverratskomplexes wird selbst verständlich behandelt; vgl. Jürgen Zarusky: Einleitung, in: Widerstand als "Hochverrat" 1933-1945, Erschließungsband, München 1998, 11-44, hier 23ff.
[2] Die Reden der Abgeordneten, die Expertisen und das Wortprotokoll der Anhörung im Rechtsausschuss sind über den Dokumentenserver des Bundestags zugänglich.
[3] Helmut Kramer: Rückfall in Verdrängung und Schuldabwehr. Letzter Versuch zur Ehrenrettung der Wehrmachtjustiz, Dezember 2008. http://kramerwf.de/Rueckfall-in-Verdraengung-und-Schuldabwehr.215.0.html
[4] Walter Wagner: Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1974, 229.
Jürgen Zarusky