Manfred Messerschmidt: Die Wehrmachtjustiz 1939-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005, XIII + 511 S., ISBN 978-3-506-71349-0, EUR 39,90
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Kurz vor Vollendung seines achten Lebensjahrzehnts hat Manfred Messerschmidt, Jahrgang 1926, von 1970 bis 1988 Leitender Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA), eine umfassende und grundlegende Darstellung der Wehrmachtjustiz vorgelegt. Zu seinem 80. Geburtstag hat das MGFA eine Sammlung wichtiger und nach wie vor aktueller Aufsätze Messerschmidts aus den vergangenen 20 Jahren herausgebracht. Die Auseinandersetzung mit der Wehrmachtjustiz, die sich auch in der Aufsatzsammlung niedergeschlagen hat, hat ihn über eine lange Strecke seines wissenschaftlichen Lebens begleitet, und sie war und ist - wie zuletzt die Affäre Filbinger / Oettinger gezeigt hat - alles andere als eine beschauliche Thematik.
Wer die erste, mit grundlegendem Anspruch auftretende Darstellung der deutschen Militärjustiz, Otto Peter Schwelings 1977 postum von Erich Schwinge herausgegebene Studie "Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus", in die Hand nimmt, erhält einen Eindruck davon. Auf das Widmungsblatt, das zwei im 'Dritten Reich' hingerichtete Wehrmachtsjuristen, Karl Sack, Chef der Heeresrechtsabteilung von 1942 bis 1944, und Rüdiger Schleicher, Chef der Luftwaffenrechtsabteilung von 1935 bis 1939, aufführt, folgt ein Vorwort aus der Feder Schwinges, das mit massiven Vorwürfen an die Adresse des Instituts für Zeitgeschichte, seines wissenschaftlichen Beirates, seines damaligen Direktors und nicht zuletzt an die Adresse Manfred Messerschmidts aufwartet. Anlass dafür war die Tatsache, dass Schwelings im Rahmen des Instituts-Projektes "Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus" entstandenes Manuskript vom IfZ wegen schwerer Mängel nicht publiziert wurde. Allzu apologetisch war die Studie ausgefallen, und das nicht zufällig: Projektleiter Hermann Weinkauff, 1937 bis 1945 Richter am Reichsgericht und von 1950 bis 1960 erster Präsident des Bundesgerichtshofs, hatte den einstigen Luftwaffenrichter Schweling nicht zuletzt wegen dessen praktischer Erfahrungen ins Projekt geholt. Schweling wiederum konnte sich auf ein Netzwerk ehemaliger Militärjuristen stützen, die ihn mit Erinnerungsberichten versorgten und auf einem Kameradschaftstreffen am 8./9. Mai 1965 Leitlinien des Werkes besprachen. Die Wehrmachtsgerichtsbarkeit sollte als ein Hort der Rechtsstaatlichkeit im totalitären Regime dargestellt werden.
Über ein ganzes Jahrzehnt zog sich die Auseinandersetzung um Schwelings Studie im IfZ hin. Als der Autor schließlich den Vorschlag ablehnte, Manfred Messerschmidt mit der Überarbeitung der Studie zu betrauen, entschied der wissenschaftliche Beirat des Instituts im März 1976 endgültig, das Manuskript nicht zu publizieren. Schweling war unterdessen, ein Jahr zuvor, an einem Herzinfarkt gestorben. Schwinge, Verfasser des maßgeblichen Kommentars zum Militärstrafgesetzbuch des NS-Regimes und aktiver Militärrichter, nach dem Krieg langjähriger Dekan der juristischen Fakultät der Universität Marburg und 1954/55 Rektor der Universität, Verteidiger in vielen Verfahren wegen NS- und Kriegsverbrechen sowie zeitweilig Mitglied des Landesvorstandes der hessischen FDP, publizierte schließlich als literarischer Nachlassverwalter Schwelings das Buch 1977 in einem Marburger Verlag. [1] Ein Jahr später, 1978, als Hans Filbinger wegen seiner Vergangenheit als Marinerichter und deren Beschönigung vom Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten zurücktreten musste, erlebte es bereits eine zweite Auflage. Eine paradoxe Situation war entstanden: Die zeitgeschichtliche Zunft und die politische Klasse hatten die Apologie der NS-Wehrmachtsjustiz gleichermaßen - und gleichermaßen nicht ohne Schwankungen und Mühe - zurückgewiesen, doch die Apologeten konnten erhebliche Deutungsmacht behaupten, denn eine andere Darstellung als die von Schweling / Schwinge lag nicht vor. Auch wenn sie in den Fachorganen und in der Tagespresse überwiegend kritisch aufgenommen wurde, blieb sie doch nicht ohne breiteren Einfluss. So garnierte der "Spiegel" seine Titelgeschichte zur Filbinger-Affäre mit einem "Report", der sich im Wesentlichen auf Schweling / Schwinge stützte und zu dem Schluss kam, deutsche Militärrichter seien besser gewesen als ihr Ruf. [2] Und der seinerzeit pronociert justizkritisch auftretende Autor Jörg Friedrich attestierte der NS-Militärjustiz in seinem aufsehenerregenden Buch "Freispruch für die Nazi-Justiz" gar, sie sei eine "Justiz im Widerstand" gewesen. "Sie milderte, wo sie hätte abschrecken müssen, und hielt ihre schützende Hand über Delinquenten, die nach dem Willen des Despoten den Volks- und Sonderrichtern ausgeliefert werden sollten." [3] Auch Friedrich stützte sich bei diesem Urteil auf Schweling / Schwinge.
Sehr bald indes folgte die "Zerstörung der Legende" - so der Untertitel eines von Messerschmidt zusammen mit Fritz Wüllner verfassten Buches über die "Wehrmachtjustiz" im Dienste des Nationalsozialismus (Baden-Baden 1987). Wüllner, ein pensionierter Industriemanager, dessen Bruder in den Fängen der Wehrmachtsjustiz sein Leben verloren hatte, hat hier sehr viel in Bewegung gebracht, wenngleich ihm das Handwerkszeug des Historikers nicht ganz geläufig war. Es folgten weitere Forschungen etwa über Wehrmachtsdeserteure oder Zeugen Jehovas und den gnadenlosen Umgang der Wehrmachtsjustiz mit diesen, überdies wurden die Ex-DDR-Archive zugänglich und in Prag tauchten Akten des Reichskriegsgerichts auf. [4] Im Bild der Wehrmachtsjustiz traten immer deutlicher die Züge einer nationalsozialistischen Institution hervor, aber es fehlte eine solide Gesamtdarstellung, die die neuen Erkenntnisse und Quellen integrierte. [5] Mit Manfred Messerschmidts Werk liegt ein solches Buch jetzt vor und es wird, wie auch bereits andere Rezensenten festgestellt haben, auf lange Zeit hin das Standardwerk auf diesem Feld sein.
Wie die zivile politische Justiz des NS-Staats war auch dessen Militärjustiz stark vom nationalen Trauma der Kriegsniederlage 1918 und deren nationalistischer Mystifikation geprägt. Wo die politische Justiz jegliche Widerstandsregung erbarmungslos abstrafte, um eine Wiederholung des niemals stattgefundenen "Dolchstoßes" zu verhindern, saß der Militärjustiz ihr angebliches "Versagen" im Ersten Weltkrieg im Nacken. Wegen zu großer Milde sei man der Auflösungserscheinungen im Heer nicht Herr geworden. Diese "Vorbelastung" und die nationalsozialistische Modellvorstellung des "politischen Soldaten", dem nicht nur Befehlsgehorsam, sondern zugleich uneingeschränkte politische Loyalität abverlangt wurde, bildeten den Wurzelgrund einer Militärjustiz, die ungefähr fünfhundertmal so viele Todesurteile verhängte wie die des wilhelminischen Kaiserreichs während des Ersten Weltkriegs. Die Rechtsprechung nimmt den größten Raum in Messerschmidts Darstellung ein, wird aber keineswegs isoliert betrachtet, sondern in eine klare organisationsgeschichtliche Analyse eingebettet. Dem äußerst brutalen Wehrmachtsstrafvollzug ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kompetenzen der Wehrmachtsgerichtsbarkeit reichten weit über disziplinarische Fälle hinaus. Sie war auch Teil der politischen Justiz des NS-Staates. Hier spielt insbesondere das Reichskriegsgericht mit seiner gnadenlosen Judikatur gegen religiöse Kriegsdienstverweigerer, vor allem aus den Reihen der Zeugen Jehovas, sowie "Hoch- und Landesverräter" eine zentrale Rolle. Das RKG war u. a. auch an der "Nacht- und Nebeljustiz" gegen Widerstandskämpfer aus den besetzten Ländern Westeuropas beteiligt und urteilte eine Reihe von Generalen ab, die Hitlers Haltebefehle nicht befolgt hatten. Dass ein erheblicher Teil der Kompetenzen für politische Delikte 1944 auf die zivile Justiz übertragen wurde, wurde von Verteidigern der Militärjustiz als Ausdruck von Hitlers Misstrauen gegen diese interpretiert. Tatsächlich ist das aber, wie Messerschmitt ausführt, eher auf die Ambitionen von Justizminister Thierack zurückzuführen. Das im April 1944 eingerichtete Zentralgericht des Heeres behielt im Übrigen erhebliche Kompetenzen in der politischen Rechtsprechung. Sein Gerichtsherr Paul von Hase, einer der später hingerichteten Verschwörer des 20. Juli, hat noch am 14. Juli 1944 ein Todesurteil gegen einen 34-jährigen Soldaten bestätigt, der einen baldigen kommunistischen Umsturz vorausgesagt und Sehnsucht nach einer früheren jüdischen Freundin zum Ausdruck gebracht hatte. Ein anderer Märtyrer des nationalkonservativen Widerstandes, Karl Sack, trug als Chef der Heeresjustiz noch weitreichendere persönliche Verantwortung für solche Praktiken. "Einer im Anfang begreiflichen Scheu vor der Verhängung der Todesstrafe darf nicht nachgegeben werden", hatte er die ihm unterstellten Richter angewiesen (192).
Mit der Institution des Gerichtsherrn, der als militärischer Vorgesetzter Urteile zu bestätigen hatte und somit eine intensive Lenkung der Rechtsprechung sicherstellte, hat Messerschmidt sich noch eingehender in einem in dem Sammelband publizierten Aufsatz beschäftigt. Bei der Lektüre fühlt man sich an das bekannte Diktum Clemenceaus erinnert, wonach es genügt, den Begriff "Militär" vor ein Wort zu setzen, um es seines Sinns zu berauben. "So ist die Militärjustiz ebenso wenig Justiz, wie Militärmusik Musik ist", meinte der französische Politiker bissig. Vor Verallgemeinerungen schützt allerdings der Blick auf die internationale Urteilsstatistik, die zeigt, dass die amerikanische, britische und französische Militärjustiz bei Weitem nicht so blutrünstig waren wie die deutsche, während die japanische und sowjetische nicht hinter ihr zurückstanden.
In seine Analyse der Militärrechtsprechung, die sich in erheblichem Maße auch auf Zivilpersonen und Kriegsgefangene der besetzten Gebiete bezog, hat Messerschmidt soviel wie möglich an statistischen Angaben einfließen lassen. Er analysiert aber auch einzelne Prozesse der verschiedenen Fallgruppen, nicht zuletzt, um die vorhandenen Handlungsspielräume auszuloten. Ein eigenes Kapitel ist der Endphase des Krieges gewidmet, als die Verteidigung der nationalsozialistischen "Endsieg"-Phantasmagorien gegen den gesunden Menschenverstand einen besonders hohen Blutzoll verlangte.
Wie man der kurzen autobiografischen Skizze "Meine Erfahrungen als Soldat 1944/45" in dem Geburtstagssammelband entnehmen kann, hatte Messerschmidt das Glück, an einigen Stationen seiner militärischen "Karriere" auf Leute mit gesundem Menschenverstand zu stoßen, die vielleicht der Bundesrepublik einen ihrer bedeutendsten Militärhistoriker gerettet haben. "Militär und Militarismus in Deutschland", "Recht und Politik", "Wehrmacht und Vernichtungskrieg", "Geschichtspolitik und Tradition" lauten die Überschriften der Kapitel, in die der Band gegliedert ist und die zugleich die Hauptachsen der wissenschaftlichen Arbeit des Jubilars benennen. Die Themenvielfalt ist groß, dennoch zeichnet den Band durchaus eine starke innere Kohärenz aus, die auch dem stets kritischen Blick des Verfassers geschuldet ist. Von der skeptischen Untersuchung der oft beschworenen demokratischen Qualitäten der allgemeinen Wehrpflicht über den Nachweis, dass auch die Richter der Militärjustiz keineswegs einem buchstabengläubigen Rechtspositivismus huldigten oder gar ausgeliefert waren, bis hin zu kritischen Bemerkungen über Historikerkollegen an der Front - Karl Dietrich Erdmann, Walter Bußmann und Percy Ernst Schramm - und der Auseinandersetzung mit der Rolle militärischer und anderer Führungseliten im Nürnberger Prozess reicht das Spektrum. Sehr instruktiv ist auch der erstmals bereits vor zwanzig Jahren erschienene Aufsatz über "Kriegstechnologie und Völkerrecht in der Zeit der Weltkriege", in dem unter anderem die Problematik der alliierten Luftkriegsführung in einer Differenziertheit erörtert wird, wie man sie bei nachfolgenden Luftkriegsbestsellern leider nicht mehr wiederfindet. Messerschmidts Bilanz angesichts der rasanten Entwicklung der Massenvernichtungswaffen vom Giftgas bis zur Atombombe ist nüchtern und negativ: "Seit dem Einbruch der modernen Kriegstechnologie ist die philosophische Vernunft ohne Wirkung geblieben." (203). Zu Resignation oder gar intellektueller Kapitulation hat ihn diese klare Sicht der Dinge indes nicht verleitet.
Anmerkungen:
[1] Otto Peter Schweling: Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus. Bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Erich Schwinge, Marburg 1977. Zu dem Konflikt um die Publikation vgl. Karl Dietrich Erdmann: Zeitgeschichte, Militärjustiz und Völkerrecht. Zu einer aktuellen Kontroverse, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30 (1979), 129-139, und Detlef Garbe: "In jedem Einzelfall ... bis zur Todesstrafe". Der Militärstrafrechtler Erich Schwinge. Ein deutsches Juristenleben, Hamburg 1989, 64 ff. Erdmann verteidigt in seinem Artikel als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des IfZ dessen Entscheidung.
[2] "Der Kerl gehört gehängt!" - Die deutschen Militärrichter im Zweiten Weltkrieg, in: Der Spiegel, Nr. 28, 10.7.1978, 36-49.
[3] Jörg Friedrich: Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile der NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1983, 134.
[4] Norbert Haase: Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts. Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 39 (1991), 379-411.
[5] Diesem Anspruch konnte auch Franz W. Seidler mit seinem Buch "Die Militärgerichtsbarkeit der deutschen Wehrmacht. Rechtsprechung und Strafvollzug" (München 1991) nicht gerecht werden. Es bringt zwar insbesondere hinsichtlich des Strafvollzugs interessantes Material, aber keine differenzierte Analyse der Rechtsprechung, die im Wesentlichen anhand der damaligen Vorschriften und der Wehrmachtskriminalstatistik dargestellt wird.
Jürgen Zarusky