Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 69), München: Oldenbourg 2007, X + 631 S., ISBN 978-3-486-57992-5, EUR 49,80
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Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006
Bertrand Michael Buchmann: Österreicher in der deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, Wien: Böhlau 2009
Valeriy Zamulin: Demolishing the Myth. The Tank Battle at Prokhorovka, Kursk, July 1943: An Operational Narrative, Solihull: Helion & Company 2010
Konrad H. Jarausch / Klaus Jochen Arnold (Hgg.): "Das stille Sterben...". Feldpostbriefe von Konrad Jarausch aus Polen und Russland 1939-1942. Mit einem Geleitwort von Hans-Jochen Vogel, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008
Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944, München: Oldenbourg 2010
Peter Liebs Studie Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? ist die zweite von vier Monografien, die im Rahmen des Projekts "Wehrmacht in der NS-Diktatur" des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin entstanden sind. [1] Der Autor, mittlerweile Senior Lecturer im Department of War Studies an der Royal Military Academy Sandhurst, ist einer der wenigen Forscher, die ihre Aufmerksamkeit im Zuge der Kontroverse um die Ausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht" des Hamburger Instituts für Sozialforschung nicht nur auf den östlichen Kriegsschauplatz gerichtet haben. [2] Denn auch zur Westfront bestanden bislang noch erstaunliche Forschungslücken. Die Meinungen in der Literatur, so zeigt Lieb einleitend auf, spiegeln Extrempositionen wider: Gehen die einen davon aus, dass die Wehrmacht im Westen einen "sauberen" Krieg führte und das gute Verhalten der Wehrmachtsoldaten gar zu einer Annäherung zwischen Franzosen und Deutschen geführt habe, sehen andere in der Kriegführung der Wehrmacht im Westen einen "Weltanschauungskrieg", der sich kaum von dem im Osten unterschieden habe (1). Aus diesen völlig gegensätzlichen Positionen formuliert Lieb seine Kernfrage, die er sinnvollerweise gleich im Titel seiner Studie stellt: Bewegten sich Kriegführung und Partisanenbekämpfung der Wehrmacht in Frankreich 1943/44 in den Grenzen eines konventionellen Kriegs oder führten die Deutschen auch im Westen einen weltanschaulichen Vernichtungskrieg wie an der Ostfront?
Mit vorbildlichem Bemühen um Objektivität stellt der Autor zunächst die Organisation der deutschen Besatzung Frankreichs und die Struktur des deutschen Westheeres von 1944 vor. Lieb schildert den Kampf an der Invasionsfront ebenso wie die Behandlung der französischen Zivilbevölkerung durch die Deutschen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Partisanenkrieg im Hinterland, erklärt seine Rahmenbedingungen, befasst sich mit der völkerrechtlichen Problematik des französischen Widerstands und beschreibt die deutschen Gegenmaßnahmen und Unternehmen zur Partisanenbekämpfung. Stets bewertet er diese anhand der damaligen kriegs- und völkerrechtlichen Situation und macht deutlich, wo Grenzen des geltenden Rechts überschritten wurden. Lieb kann aufzeigen, dass Hitler und das Oberkommando der Wehrmacht mit ihrem Bemühen um Härte und Rücksichtslosigkeit bei der Unterdrückung der französischen Widerstandsbewegung zur Radikalisierung des Partisanenkriegs im Westen beitrugen. Dennoch gab es große Unterschiede zum Osten und Südosten Europas - und ein Massaker wie jenes in Oradour-sur-Glane, angerichtet durch eine Kompanie der 2. SS-Panzerdivision "Das Reich", blieb eine Ausnahme, für das sich die Wehrmacht bereits seinerzeit schämte und bei den französischen Behörden entschuldigte (371 f.). Auch andere Exzesse gegen die Zivilbevölkerung blieben meist auf besonders stark ideologisierte Verbände wie Einheiten der Waffen-SS, der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes beschränkt, während Wehrmachteinheiten deutlich zurückhaltender waren und auch kaum "Repressalien" gegen Frauen und Kinder durchführten. Von einem "Vernichtungskrieg" im Westen, so Lieb zusammenfassend, könne keine Rede sein (510). Und auch an der Front führte die Wehrmacht in Frankreich "einen Krieg, der sich im Rahmen des Völkerrechts bewegte" (511).
Doch nicht nur zu Partisanenbekämpfung und Kriegführung der Wehrmacht erfährt der Leser viel Neues, sondern auch zur Operationsgeschichte der Waffen-SS - jener Truppe, die in den letzten Jahren ein reges Forschungsinteresse auf sich gezogen hat. Lieb betont, dass Waffen-SS-Einheiten nicht nur mehr Verbrechen begingen und sich gegenüber der französischen Bevölkerung brutaler verhielten als Wehrmachtverbände. Auch an der Front habe Himmlers Truppe deutlich radikaler und erbitterter gekämpft. Mit sechs besonders kampfkräftigen Divisionen sei die Waffen-SS an der Westfront zudem überproportional stark vertreten gewesen und habe sich als eigentliche Stütze der Westfront herauskristallisiert. Lieb bezeichnet die SS-Divisionen als "Feuerwehr der Westfront" und setzt damit bewusst einen Kontrapunkt zur bislang vorherrschenden Meinung, die Waffen-SS sei vor allem im Osten aufgetreten und eine "Feuerwehr der Ostfront" gewesen (443).
Genau wie im Kapitel über den Partisanenkrieg und die Bekämpfung des französischen Widerstands, bemüht sich Lieb auch bei der Beschreibung der Kämpfe in der Normandie um Ausgewogenheit. Er zeigt auf, dass Kriegsverbrechen keineswegs nur auf deutscher Seite begangen wurden: So erschossen alliierte Soldaten immer wieder Gefangene, besonders Angehörige der Waffen-SS und der Fallschirmtruppe - also jener "Eliteverbände", die aufgrund ihrer Kampfkraft und Hartnäckigkeit besonders gefürchtet waren (145, 168 f. u. 175 f.). Und schließlich macht der Autor deutlich, dass die Franzosen für die Befreiung ihres Landes von der deutschen Besatzungsherrschaft einen hohen Preis zahlen mussten: Während den deutschen Aktionen zur Partisanenbekämpfung circa 15.000 Franzosen zum Opfer fielen, wurde sogar die vierfache Anzahl, nämlich 60.000 Personen, durch alliierte Luftangriffe getötet (219). Und gelegentlich verhielten sich alliierte Soldaten gegenüber den Franzosen rücksichtslos und ließen sich zu Plünderungen und mutwilligen Zerstörungen hinreißen (165 f. u. 224 f.).
Peter Lieb hat ein Standardwerk zur Geschichte des Krieges im Westen 1943/44 vorgelegt, an dem sich künftige Forscher orientieren und messen lassen müssen. Sowohl hinsichtlich der Quellengrundlage, dem Bemühen um Differenzierung als auch der Sachkenntnis, die der Autor präsentiert, setzt die Arbeit hohe Maßstäbe. Moderne Militärgeschichte par excellence!
Anmerkungen:
[1] Die drei anderen aus dem Projekt hervorgegangenen Monografien sind: Johannes Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006 (vgl. hierzu die Rezension von Jochen Böhler, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2008/07/11499.html), Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München 2008 sowie Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009 (vgl. zu diesen beiden Bänden die Rezension von Roman Töppel, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2010/07/17107.html).
[2] Gleichwohl hat Lieb auch zu Verbrechen an der Ostfront Forschungsergebnisse vorgelegt: Peter Lieb: Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42, in: VfZ 50 (2002), 523-557; ebenfalls erschienen (und durch eine Nachbemerkung ergänzt) in: Christian Hartmann / Johannes Hürter / Peter Lieb / Dieter Pohl (Hgg.): Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944. Facetten einer Grenzüberschreitung, München 2009, 271-304 (vgl. zu diesem Band ebenfalls die Rezension von Roman Töppel, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8; URL: http://www.sehepunkte.de/2010/07/17107.html).
Roman Töppel