Rezension über:

David King: Ganz normale Bürger. Die Opfer Stalins, Essen: Mehring Verlag 2012, 192 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-88634-128-3, EUR 29,90
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Rezension von:
Jürgen Zarusky
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Zarusky: Rezension von: David King: Ganz normale Bürger. Die Opfer Stalins, Essen: Mehring Verlag 2012, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/22458.html


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David King: Ganz normale Bürger

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"Welch grauenhafte Ironie, dass der tödliche Blick der Geheimpolizei solch sensible Porträts hervorbringen konnte. Im Gegensatz zu westlichen Polizeifotos entstanden diese Aufnahmen ohne künstliches Licht. Mit einer längeren Belichtungszeit und natürlichem Licht blickte die Person direkt in die Kamera, wodurch eine Vielfalt von Gefühlsregungen sichtbar wurde. Keiner dieser normalen Bürger wurde überrascht oder gar 'bloßgestellt' vom Blitz. Die Gesichter lassen den Betrachter nicht mehr los und erschüttern ihn oftmals zutiefst. Die direkten Blicke in die Kamera zeigen Furcht, Wut, Trotz, Verzweiflung, manchmal einfach nur grenzenlose Traurigkeit. Unsichere Blicke enthüllen Schmerz, Stolz und Aufrichtigkeit. Zorn zeigt sich auf einem oder zwei der Gesichter. Manche weisen Folterspuren auf. Einige sind gezeichnet von Krankheit. Manche blicken wirr. Besonders schockierend: Einige lächeln in die Kamera oder versuchen zumindest, den Hauch eines Lächelns aufzusetzen." So charakterisiert der britische Sammler David King treffend und einfühlsam die Porträtaufnahmen, die er in dem Band "Ganz normale Bürger. Die Opfer Stalins" publiziert hat. Die Bilder stammen aus OGPU/NKVD-Unterlagen, die im Archiv von Memorial in Moskau lagern. Die auf Bildtafelformat vergrößerten Porträts zeigen durchweg Menschen, die sich in der Hand der sowjetischen Geheimpolizei befanden und allesamt, teils von administrativen Organen, teils - in einer geringeren Zahl von Fällen - vom Militärkollegium des Obersten Gerichts zum Tode verurteilt und erschossen wurden. Es sind Aufnahmen von großer Eindringlichkeit. Die Blicke der Porträtierten richten sich meist direkt auf den Betrachter. Die Informationen über ihr Schicksal sind allerdings eher sporadisch. Es handelt sich um die entsprechenden Einträge der Opfer-Datenbank von Memorial (http://lists.memo.ru/), die inzwischen mehr als 2,6 Millionen Namen von Repressierten umfasst, allerdings ohne die dort aufgeführten Quellenangaben.

Überhaupt lässt die historische Einordnung der präsentierten Bilder einiges zu wünschen übrig. Die Information, dass die Bilder Menschen "aus 20 Ländern" zeigen, die in über 50 verschiedenen Berufsfeldern tätig gewesen seien, ist das einzige, was über die Auswahlkriterien ausgeführt wird. Dabei bezeichnen die "Länder" zum Teil wohl nicht Staaten, sondern Nationalitäten der Sowjetunion. Die Bilder sind weitestgehend chronologisch angeordnet. Eine der frühesten Aufnahmen ist die des Letten Alfred Nagel, der 1924 verhaftet und 1925 von der OGPU zum Tode verurteilt und wenige Tage danach erschossen wurde. Bei den Fällen aus der Mitte der 1920er Jahre kann man nicht so eindeutig von "Opfern Stalins" sprechen, wie das David King im Titel des Bandes (die englische Originalausgabe heißt "The Victims of Stalin") und in seiner Einleitung tut, denn zu diesem Zeitpunkt war Stalin noch keineswegs der allmächtige Tyrann, der er allerdings bald werden sollte. Dem Politbüro gehörten mit Bucharin, Kamenev, Zinov'ev und auch Trotzki noch Politiker an, die er später alle ermorden lassen sollte. Die brutale Verfolgung tatsächlicher oder vermeintlicher Gegner hat er aber nicht allein erfunden. Sie gehörte seit der Oktoberrevolution zum Handlungsrepertoire der Bol'ševiki. Allerdings hat Stalin sie zu in jeder Hinsicht ungeahnten Dimensionen geführt.

Die letzten Fotos stammen aus dem Jahr 1950. Bemerkenswert ist, dass sich der Duktus der Aufnahmen in diesem Vierteljahrhundert nicht verändert hat. In dieser Zeit war die UdSSR von dramatischen Umbrüchen erschüttert worden: der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den frühen, dem Großen Terror in den späten dreißiger Jahren, den Annexionen im Zuge des Hitler-Stalin-Pakt, dem extrem opferreichen "Großen Vaterländischen Krieg" mit Nazi-Deutschland und dem triumphalistisch-repressiven Spätstalinismus. Die Einführung von David King geht über diese Zäsuren nahezu vollständig hinweg. Die Zusammenhänge der Verfolgung der abgebildeten Personen bleiben offen. Es werden nur, aber auch das nicht immer, die formalen Anklagepunkte genannt. Dass King ein Sammler historischer Fotografien und kein Historiker ist, schlägt sich auch in Details nieder. So zeigen die Aufnahmen auf den Bildtafeln der Seiten 1 bis 4 nicht , wie es in der Bildlegende (8) heißt, Verdächtige, die zum Verhör ins Lubjanka-Gefängnis gebracht werden, sondern Angeklage des Šachty-Prozesses im Hinterhof des Moskauer Hauses der Gewerkschaften, in dessen Säulensaal dieser erste große stalinistische Schauprozess 1928 stattgefunden hat. Auch der Aktentransport auf Seite 16f. ist eine Szene aus diesem Prozess und nicht in einem "Gebäude der Geheimpolizei in Moskau" zu verorten. [1]

Dennoch hat King wie bereits mit seinem 1997 in Deutschland erschienen Fotobuch "Stalins Retuschen" [2], das die fotografische "damnatio memoriae" dokumentierte, die Stalin seinen aus dem Weg geräumten Gegnern angedeihen ließ, einen weiteren wichtigen Beitrag zur Aufklärung über den Stalinismus - und nicht nur diesen - geleistet, indem er mit der Publikation der in der Vergrößerung äußerst ausdrucksstarken und berührenden Bilder aus sowjetischen Geheimpolizeiakten die Gesichter von Opfern vor Augen führt, die im Gedächtnis des Betrachters haften bleiben und helfen, die menschliche Dimension der bol'ševistischen Verfolgungen zu verstehen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. S. A. Krasil'nikov (otv. red.): Šachtinskij process 1928 g.: podgotovka, provedenie, itogi, Moskau 2011, Bildseiten nach Seite 480.

[2] David King: Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion. Mit etwa 150 großformatigen Fotografien und Dokumenten, Hamburg 1997.

Jürgen Zarusky