Rupert M. Scheule / Johann Ev. Hafner: Himmel Heilige [Hyperlinks]. Die barocke Bilderwelt - entschlüsselt am Beispiel der Abtei Ottobeuren, Augsburg: Media Connect 2003, CD-ROM (Systemvoraussetzungen Windows 98/NT/2000/XP; Macintosh ab MacOS 8.1), ISBN 978-3-927233-85-0, EUR 18,00
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Barocke Kirchenräume bieten sich für die Darstellung in einem multimedialen Medium geradezu an. Die semantische Komplexität und Vielschichtigkeit eines barocken Kirchenprogramms in einem solchen Medium zu visualisieren und seine Bildstrukturen durch die rekonstruierte Bewegung im Raum nachzuvollziehen, ist eine wissenschaftliche und mediendidaktische Herausforderung, der sich die Theologen Rupert Scheule und Johannes Hafner gestellt haben. Die CD-Rom ist kein digitaler Reprint eines Buches, sondern die Herausgeber versuchen hier überzeugend, neue Wege zu beschreiten, die auf weitere digitale Wissenschaftspublikationen hoffen lässt.
Die vom Haus der Bayerischen Geschichte produzierte CD-Rom verspricht eine "vollständige digitale Rekonstruktion der Rokoko-Basilika Ottobeuren [...] mit mehr als 500 Bildern, Kamerafahrten und mehreren hundert Einzelartikeln von insgesamt 1300 Textseiten [..., die ] so miteinander verknüpft [sind], dass der virtuelle Kirchenbesucher seine ganz eigenen Erlebniswege im Kosmos der Basilika zurücklegen kann." (Booklet 2) In Verbindung mit der anschließenden namentlichen Nennung der über 70 Fachwissenschaftler lässt diese CD eine wissenschaftliche Publikation erhoffen, die die Lücke einer ausstehenden Monografie zur Abteikirche schließen könnte. Doch leider gehen die Texte selten über einen Kirchenführer und allgemeine Lexikonartikel hinaus und lassen eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Forschung vermissen.
GAnz anders die mediendidaktische Konzeption; sie könnte Standards für zukünftige digitale Publikationen setzen. Den Verantwortlichen für diese Konzeption, den Studierenden aus dem 4. Semester Multimedia der Fachhochschule Augsburg und den Programmieren der Firma Media Connect, gebührt das besondere Lob dieser CD; leider wurden sie im Vorwort nur beiläufig erwähnt.
Nach einem kurzen, musikalisch begleiteten Intro befindet sich der Nutzer auf der Startseite der CD. Von hier aus kann er zum "Vorwort" gelangen oder zwischen drei unterschiedlichen Zugängen wählen, um auf die einzelnen Informationseinheiten zuzugreifen. Die Struktur der CD kann man sich als einen Karteikasten mit Objektkarten vorstellen, auf denen objektspezifische kunsthistorische, historische und theologische Informationseinheiten zusammengefasst sind. Parallel dazu können in einem Glossar jederzeit Kurzinformationen zu Personen und Begriffen aufgegriffen werden.
Einen ersten visuellen und einfachen Zugang zur Abteikirche von Ottobeuren findet der Nutzer auf der Startseite über die "Filmwelten". Hier kann man in qualitativ hervorragenden QuicktimeVR-Filmen navigieren, die so durch HotSpots miteinander verbunden sind, dass sie einen ersten individuellen Rundgang durch die gesamte Kirche ermöglichen. Als virtueller Kirchenbesucher kann der Nutzer jedes Objekt im Film anklicken und die Objektkarten mit Hintergrundsinformationen aufrufen. Will der Besucher aber in den virtuellen Kirchenraum zurück, so steht er ganz verwundert wieder am Beginn seiner virtuellen Reise. Hier sollte zukünftig eine technische Lösung gefunden werden. Ansonsten wird der Nutzer nach dem dritten Versuch diesen sehr intuitiven Zugang zur Kirchenausstattung nicht mehr wählen.
Einen zweiten Zugang zur Kirche erhält der Nutzer über einen "Grundriss", auf dem er durch Berührung des Standortes direkt zur entsprechenden Objektkarte wechseln kann. Diesen Weg werden diejenigen vorziehen, die zu den Objekten Informationen suchen, deren Standort sie kennen.
Schließlich kann der virtuelle Besucher auch über eine differenzierte Suchfunktion leicht innerhalb der 1300 Textseiten recherchieren. Drei Indizes zu "Motive", "Themen" und "Hintergrund" erleichtern die Stichwortauswahl, und eine Freitextsuche ermöglicht den direkten Zugriff über einen beliebigen Begriff.
Welchen Zugang der Nutzer auch wählt, er wird immer auf eine Objektkarte mit den weiterführenden Informationen gelenkt. Der Aufbau einer solchen Objektkarte ist sehr übersichtlich und die Navigation selbsterklärend. Der Bildschirm ist hier zweigeteilt. Auf der linken Seite repräsentiert ein sehr gutes Bild das Objekt, während auf der rechten Seite der entsprechende Text erscheint. Das Bild kann durch einen Klick zumeist weit über die minimale Bildschirmauflösung der CD von 800 x 600 Pixeln hinaus vergrößert werden und liefert so hervorragende Detailansichten.
Der Text kann vom Leser sehr leicht den eigenen Lesegewohnheiten (Schrifttype, -größe, ganzseitige Textansicht) angepasst und entsprechend dieser Formatierung auch ausgedruckt werden.
Die einzelnen Informationseinheiten sind auf den Objektkarten thematisch sortiert. Jeder Zugriff auf ein Objekt beginnt mit einer informativen Einführung zur Abbildung. Hier werden die wichtigsten Informationen zum Objekt kurz und prägnant zusammengefasst, sodass sie in ihrer Gesamtheit einen gut geschriebenen Kirchenführer darstellen.
Wünscht der Leser vertiefende Interpretationen zu den Objekten kann er zwischen den Themenbereichen "Kunst", "Glaube", "Geschichte" und "Praxis" wählen, die er leicht über Steuerungsikons erreichen kann. Doch was mediendidaktisch sinnvoll angelegt ist, hätte an diesen Stellen auch inhaltlich gefüllt werden müssen. Nicht selten folgen Abhandlungen, wie die zum Hostienwunder und zur Kreuzestheologie, die keine direkte Beziehung zum Objekt erkennen lassen. Dem Objekt kommt häufig nur eine illustrative Bedeutung zu. Das würde man verzeihen, wenn die Inhalte den Verlust ausgleichen würden.
Auf zwei Textseiten kann aber ein Einblick in die Geschichte des Selbstverständnisses der Künste von der Renaissance über Nietzsches Kritik an der Kunst bis zur Sozialen Plastik von Joseph Beuys, wie es die Autorin zu "Allegorien 'Künste' mit Jodler" versucht, noch nicht einmal im Überblick geleistet werden. Aus dem Blickwinkel der praktischen Theologie bemüht sich der Interpret des "romanischen Kruzifixus" zum Beispiel um einen Vergleich des hier in der Kirche ikonenartig inszenierten Kreuzes mit den zeitgenössischen Passionskompositionen Bachs zu "Oh Haupt voll Blut und Wunden". Solche assoziativen Beziehungen zwischen einem romanischen Christus triumphans in einer katholischen Barockkirche und einem protestantischen Passionslied lassen jedes historisches Verständnis vermissen, das auch der praktischen Theologie gewöhnlich nicht fremd ist. Die eigentlich kulturhistorisch und in Bezug auf das Objekt vertiefende Frage, wie in Ottobeuren ein alter Kruzifixus zentral in einem Kirchenraum inszeniert und neu interpretiert wird, wird dagegen an keiner Stelle problematisiert. Es verwundert schließlich nicht mehr, wenn die Autoren zur Kanzel und Taufgruppe auf den grundlegenden Aufsatz von Lindemann (ZfKG 1989) nicht eingehen und ihn in der dazugehörigen Literaturliste noch nicht einmal zitieren. Ihren geforderten vertiefenden Zweck können diese Texte leider nur selten einlösen.
Die Navigation stellt in einer digitalen Publikation, die die Inhalte nicht linear, wie in einem Buch, aneinander reiht, sondern sie in einem so genannten hypermedialen Themenraum vernetzt präsentiert, eine besondere Herausforderung dar. Sie ist hier beispielhaft gelöst.
Das Design und die unterschiedlichen medialen Inhalte sind gut aufeinander abgestimmt und die Anwendung der auf allen Ebenen festen Steuerungswerkzeuge erklärt sich zumeist von selbst. Jederzeit kann der Nutzer die Lautstärke der begleitenden Kirchenmusik einstellen oder abstellen, mit einem Klick direkt zur Startseite zurückfinden oder die CD beenden. Über zwei Pfeile kann er auf seinem individuell eingeschlagenen Weg rückwärts und wieder vorwärts gehen. Der Gewohnheit der Browsertechnologie folgend, erscheinen über den Pfeilen immer die letzten acht Stationen, sodass er auch auf ein weiter zurückliegendes Thema zurückspringen kann. Ein solcher hypermedialer Themenraum, in dem der Nutzer seinen eigenen linearen Erlebnisweg, wie ihn die Autoren treffend nennen, konstruieren kann, folgt dem Konzept des explorativen Lernens und unterscheidet sich in diesem Fall grundsätzlich von einem Buch.
Der Vorteil dieser Struktur zeigt sich vor allem bei den großformatigen Deckenfresken. Sie werden nicht einfach durch eine Objektkarte erklärt, sondern dem Nutzer wird ein den Monitor füllendes Bild vom Fresko vorgeschaltet, auf dem alle Motive verlinkt sind. Man kann sich folglich per Quickinfo durch eine einfache Berührung der Motive mit der Maus über die Ikonographie kurz informieren oder durch einen Klick weitergehende Informationen bekommen. Der "Freskenhimmel" in Ottobeuren ist auf der "digitalen Rekonstruktion" der Abteikirche nicht nur mit Heiligen, sondern auch mit Hyperlinks besetzt, woher die CD wahrscheinlich ihren ungewöhnlichen Titel nimmt.
Als störend wird der Nutzer sehr schnell ein kleines, aber entscheidendes Navigationsproblem empfinden. Wechselt er von einer Informationseinheit zur anderen, dann kommt er nicht mehr an die zuletzt gelesene Stelle zurück. Dies hat nicht selten ein aufwändiges Scrollen zur Folge. Aber mehr noch: wechselt der Nutzer die Objektkarten, dann erhält er auf seinem Rückweg immer zuerst die Einführung und nicht den zuletzt gelesenen Text zu den historischen Hintergründen des Objekts. Durch dieses technisch lösbare Problem kann die vernetzte Navigation schnell zur Last werden und ermüden.
Die grundsätzlich überzeugende technische und mediendidaktische Umsetzung wissenschaftlicher Inhalte auf einer CD-Rom regt zu folgenden Wünschen an, die zukünftige "digitale Publikationen" bedenken sollten.
Trotz aller Vorteile des explorativen Lernens sollte auf eine lineare Führung durch ein Thema, hier durch eine Kirche und ihre Ausstattung, nicht verzichtet werden. Nur in einer linearen Argumentation ist es möglich, Thesen zu problematisieren und wissenschaftliche Erkenntnisse zu entfalten. Auf diesen medienspezifischen Vorteil des Buches sollte man in einer digitalen Publikation aber nicht verzichten. Mehr noch, mehrere linear aufgebaute Themenfelder würden die breite Akzeptanz einer solchen CD bei Laien und Fachleuten enorm erhöhen.
Hierbei könnte man an so genannte Themenpfade denken, denen man über einen Link folgt, oder aber an kurze Quicktime-Filme, die in ein Themenfeld einführen. Im Vorwort wird eine Interpretation der Kirche als Monstranz oder die Kirchenausstattung als illustrierendes Te deum vorgeschlagen. Anhand einer visualisierten Führung hätte man die Argumente überzeugend nachweisen können.
Folgt man dann hier dem wissenschaftlichen Anspruch einer solchen Publikation, so wäre eine einheitliche Notation der einzelnen Texte zu wünschen, damit eine Zitierung der Texte leicht möglich ist.
Einer modernen Verwendung der CD im Rahmen von Forschung und Lehre steht der beschränkte Umgang mit Bild und Text entgegen. Die Texte können nicht markiert und kopiert werden. Die Speicherung der Bilder wird technisch verhindert, sie sind dadurch zur privaten Forschung und universitären Lehre unbrauchbar. Im Sinne der "Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen" vom 22. Oktober 2003 wäre ein offener Umgang mit Wissen angemessen.
Bei einer mehrstündigen Arbeit mit der CD führt die Lektüre von 1300 Textseiten zur Ermüdung. Es wäre wünschenswert, wenn man zukünftig die multimedialen Möglichkeiten weiter ausreizte und die Texte auch gesprochen anböte. Die Computerspielindustrie hat diesen medialen Vorteil schon längst erkannt und im Museum gehören Audioguides zum Alltag. Vor allem wissenschaftliche Publikationen sollten diesen medienspezifischen Vorteil einer CD nutzen.
Das technische und mediendidaktische Konzept dieser CD ist vorbildlich und lässt auf gute digitale Publikationen in der Zukunft hoffen. Dies wird aber nur dann gelingen, wenn auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für die Texte einer CD-Produktion ihrem wissenschaftlichen Anspruch folgen und die digitalen Publikationen gleichwertig zum Buch annehmen.
Holger Simon