Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin: Siedler 2003, 639 S., 70 s/w-Abb., ISBN 978-3-88680-795-6, EUR 32,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Seine bei Karl Schlögel an der Frankfurter Viadrina entstandene Dissertation versteht Gregor Thum als einen Beitrag zu vier historischen Forschungsfeldern: zur Breslauer Stadtgeschichte, zu den deutsch-polnischen Beziehungen, zur Geschichte der Vertreibung im 20. Jahrhundert und als Studie zum "kollektiven Gedächtnis" (nach Jan Assmann) bzw. zur "Erfindung von Traditionen" im Sinne Eric J. Hobsbawms. Es handelt sich demnach um eine vielschichtige Fallstudie, der die These zu Grunde liegt, dass man anhand der Geschichte Breslaus einen Zugang zur Katastrophengeschichte des vergangenen Jahrhunderts findet. Die sinnlose Zerstörung der schlesischen Metropole bildete den grausamen Schlusspunkt des Zivilisationsbruches, der mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 begonnen hatte. Thum wählt die dramatischen Ereignisse rund um das Kriegsende in Breslau als Ausgangspunkt seiner Untersuchung, die mit einer dichten Beschreibung des Geschehens in der "Festung Breslau" im Frühjahr 1945 einsetzt.
Der erste Teil des Buches stellt eine Sozialgeschichte der Eroberung und des Bevölkerungsaustausches in der Stadt, der sukzessiven Vertreibung ihrer deutschen Bürger und der Etablierung der polnischen Herrschaft dar. Dabei widmet sich der Verfasser verschiedensten Aspekten dieser Landnahme: Er beschreibt die Ankunft der neuen Herrschenden, das lange Nebeneinander von Deutschen und Polen in Chaos und Trümmern, die schillernde Rolle der sowjetischen Truppen und das allmähliche Eintreffen der neuen Siedler. Detailliert werden der Verlust an Urbanität, der Vandalismus und die Plünderungen, der Schwarzmarkt als Versorgungsbörse und Ort der wilden Umverteilung, der Verfall der Gebäude und der Beginn des Wiederaufbaus beschrieben. Thum betont dabei die Unsicherheit und die Fremdheit, die viele polnische Siedler in ihrer neuen Umgebung empfanden. Es dauerte mindestens eine Generation, bis sie in ihrem neuen Zuhause angekommen waren. Eindrucksvoll bestätigt diese Breslauer Fallstudie die aus der vergleichenden Vogelperspektive von Norman M. Naimark herausgearbeiteten Thesen, dass "ethnische Säuberungen" aus den Bemühungen hochmoderner Staaten resultieren, das Ideal eines homogenen Nationalstaates durchzusetzen, und nur im Krieg bzw. unter Anwendung genozidaler Gewalt - insbesondere auch gegen Frauen - durchführbar sind [1].
Im zweiten, "Gedächtnispolitik" betitelten Teil der Studie untersucht der Verfasser die Verwandlung Breslaus in das polnische Wrocław. Dabei analysiert er die Propaganda der frühen Volksrepublik Polen mit ihren starken Anleihen bei der nationalistischen Ideologie Roman Dmowskis und rekonstruiert den Versuch, eine neue Geschichte Breslaus zu schreiben und zu popularisieren, in der die Polonität der Stadt seit piastischer Zeit und ihr Niedergang unter preußischer Herrschaft behauptet wurde. Die Polonisierung der schlesischen Metropole fand ihren sichtbaren Ausdruck in einer toponomischen Revolution, die sämtliche Orte, Plätze und Straßen erfasste. Die Säuberung der Stadt von ihrer Vergangenheit drückte sich außerdem in der Entfernung deutschsprachiger Inschriften und der Einebnung zahlreicher Friedhöfe aus. Gleichzeitig bemühte sich das Regime auf lokaler Ebene um die Stiftung einer eigenen polnisch-niederschlesischen Identität und die Erfindung neuer, eigener Traditionen in den "Westgebieten". Dies dokumentierte sich in der Einführung eines neuen Stadtwappens und bei der Errichtung neuer Denkmäler. Architektur- und kunsthistorisch versiert, erzählt Thum vom Wiederaufbau der historischen Bausubstanz, der nicht ohne ideologische Prämissen auskam. Die Herrschenden favorisierten die mittelalterliche Gotik, die zum Symbol eines piastischen Breslau stilisiert wurde. Auf Grund eines "antipreußischen Reflexes" verzichtete man häufig auf die Rekonstruktion von Baudenkmälern aus der borussischen Epoche Schlesiens. Die wenigen Zeugnisse nationalsozialistischer Architektur beseitigte man hingegen nicht; sie wurden vielmehr von der kommunistischen Staatspartei und der Wojewodschaftsverwaltung genutzt.
In einem Ausblick schildert der Verfasser die Entwicklung des Breslauer Regionalbewusstseins nach dem Ende der kommunistischen Diktatur. Im Zuge des Umbruchs von 1989 revolutionierte sich auch das Geschichtsbild: Das verordnete Schweigen über die deutsche Vergangenheit wich der Aneignung der bürgerlichen Traditionen der Stadt. In zahlreichen toponomischen Symbolakten änderte sich der Stadtplan Breslaus erneut beträchtlich, wobei häufig die historische Bezeichnung in ihrer polnischen Variante als neuer Orts- oder Straßenname gewählt wurde. Das historische Stadtwappen von 1530, das zunächst 1938 durch eine nationalsozialistische und dann 1948 durch eine nationalkommunistische Erfindung verdrängt worden war, wurde wieder zum Symbol einer Stadt, die sich nun ihre Vergangenheit ohne verordnete nationalistische Scheuklappen aneignen konnte.
Thum gelingt in seiner Dissertation das Kunststück, verschiedene historische Forschungsfelder fruchtbringend zu verbinden. Detailreich, stilsicher, mit Mut zum eigenen Urteil und mit der gebührenden Sensibilität hat er eine faszinierende Fallstudie zu einem der düstersten Kapitel des 20. Jahrhunderts komponiert. Sein Buch ist ein Beleg dafür, dass das Ende des Kalten Krieges, die Öffnung der Archive, die methodischen Innovationen der Kulturgeschichte und eine neue Generation von Historikerinnen und Historikern der historischen Osteuropaforschung entscheidende Impulse gegeben haben.
Anmerkung:
[1] Norman M. Naimark: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe, Cambridge, Mass. 2001, 185-198.
Jan C. Behrends