Christiane Brenner / Peter Heumos (Hgg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, DDR 1945-1968 (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum; Bd. 27), München: Oldenbourg 2005, 558 S., 38 Abb., ISBN 978-3-486-57696-2, EUR 59,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Seit 1989 hat sich die Sozialgeschichte zu einem der wichtigsten Felder in der historischen Forschung über kommunistische Diktaturen entwickelt. Der vorliegende Band enthält diesbezügliche Studien über vier ostmitteleuropäische Länder - die ČSSR, Polen, Ungarn und die DDR - und ist in vier Teile gegliedert.
Im ersten Abschnitt des Buches widmen sich die Autoren Konflikten der Industriearbeiterschaft mit den Staatsparteien. Dabei werden die Herrschaftskrisen von 1953 in der DDR und von 1956 in Polen thematisiert. Die Beiträge von Friederike Sattler und Małgorzata Mazurek zeigen mit einem betriebssoziologischen Ansatz, wie schwer es den Industriearbeitern fiel, nach dem Ende akuter Krisen ihre Interessen gegenüber dem langen Arm der Staatspartei zu vertreten. Mark Pittaway beschreibt anschaulich die Arbeitsbedingungen im ungarischen Kohlebergbau in der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur der frühen Fünfzigerjahre, und Peter Heumos beschäftigt sich mit verschiedenen "sozialistischen Arbeitsinitiativen" unter der tschechoslowakischen Industriearbeiterschaft. Anhand diverser Quellen zeigt er das breite Spektrum arbeiterlicher Reaktionen auf die parteistaatlichen Mobilisierungsversuche: Sie reichten von enthusiastischer "Stoßarbeit" bis zur gewaltsamen Verfolgung übereifriger "Aktivisten".
Der folgende Abschnitt behandelt betriebliche Kulturarbeit und wird durch einen vergleichenden Aufsatz von Helke Stadtland zur Rolle der parteistaatlichen Gewerkschaften in der DDR und Osteuropa eröffnet. Jiří Knapík untersucht die tschechoslowakische Kulturpolitik nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948; durch neue Institutionen und radikale Maßnahmen versuchte die Staatspartei in diesem Jahr, die kulturelle Sphäre ihrem totalen Gestaltungsanspruch zu unterwerfen. Anschließend analysiert Jiří Pokorný die Rolle von Betriebsklubs bei der Erziehung und Freizeitgestaltung tschechischer Arbeiter. Ziel dieser Klubs war es, die Lebensgestaltung der Arbeitenden auch nach Betriebsschluss im Sinne des Regimes zu beeinflussen. Die parallele Entwicklung betrieblicher Kulturhäuser in der SBZ/DDR beschreibt Annette Schuhmann. Sie arbeitet heraus, wie gering die Akzeptanz des ideologisierten Kulturangebots insbesondere unter Jugendlichen war.
Der dritte Teil des Bandes ist dem Thema "Repression und soziale Klassen" gewidmet. Dieter Segert fragt einleitend nach den Voraussetzungen einer Sozialgeschichte der kommunistischen Repression. Karel Jech erläutert die Maßnahmen der tschechischen Kommunisten gegen die Großbauernschaft in der "Aktion K" der frühen Fünfzigerjahre, in der viele Bauernfamilien an entfernte Orte deportiert wurden. Der Verfasser kann zeigen, wie dieser Eingriff die Sozialstruktur tschechischer und slowakischer Dörfer bis heute prägt. Marketa Spiritová beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem widrigen Alltag gemaßregelter und unterdrückter Intellektueller während der tschechischen "Normalisierung" nach 1968. Anhand von Interviews rekonstruiert sie die Leidensgeschichten und Überlebensstrategien tschechischer Akademiker, die Berufsverbot erhielten und sich teils brachialen, teils subtilen Schikanen des Parteistaates ausgesetzt sahen, dem es gelang, sie auf die unterste soziale Stufe hinabzudrücken und ihr Privatleben gezielt zu zerstören. Dass sich die Gewalt der kommunistischen Machthaber auch gegen die Proletarier richten konnte, betont Jiří Pernes in seinem Aufsatz über die Arbeiterproteste des Jahres 1951 in Brünn. Der Parteistaat reagierte auf diese mit einer massiven Einschüchterungskampagne, die in einem Schauprozess mündete. Schließlich geben Mečislav Borák und Dušan Janák einen Überblick über die Prozesse gegen Deutsche, die 1945-48 vor so genannten "Retributionsgerichten" in Schlesien und Nordmähren stattfanden. Die Verfasser veranschaulichen, zu welchen Verwerfungen die nationalsozialistische Besatzung und ihr rechtliches Nachspiel vor den "Volksgerichten" im ethnisch gemischten Teschener Schlesien und um Troppau führten, wo die Justiz sich bemühte, nach dem Krieg die "Nationalität" der Staatsbürger neu zu definieren.
Den originellsten Teil des Bandes bildet das abschließende Kapitel über Aufbaumilieus und sozialistische Musterstädte im Vergleich. Da sich an diesen Orten das social engineering der Machthaber konzentrierte, trifft sozialgeschichtliche Kommunismusforschung hier auf einen besonders lohnenden und faszinierenden Gegenstand. Der Eingangsthese von Michaela Marek, dass der Nachkriegskommunismus keine Idealstädte kannte, muss denn auch deutlich widersprochen werden: gerade in Städtebau und Architektur war das sowjetische Vorbild verpflichtend; Städte wie Moskau, Magnitogorsk oder Komsomoľsk wurden etwa in der zeitgenössischen ostdeutschen oder polnischen Propaganda als utopische Orte konstruiert und gefeiert. Diese Verflechtungen zwischen Zentrum und Peripherie des sowjetischen Imperiums, zwischen Hegemonialmacht und Satelliten ignoriert die Verfasserin. Stattdessen entführt sie den Leser auf eine tour d'horizon durch die Geschichte modernen Städtebaus, urbaner Utopien und schließlich sowjetischer Architekturgeschichte, die jedoch kaum dazu beiträgt, das spezifische Phänomen stalinistischer Industriestädte sozialhistorisch zu verorten, geschweige denn zu erklären.
Weitaus ertragreicher sind die Fallstudien zur ČSSR, zu Ungarn und zu Polen. Petr Lozoviuk betrachtet aus ethnografischer Perspektive die böhmische Bezirksstadt Žďár nad Sázavou, die in eine Musterstadt verwandelt werden sollte. Dabei untersucht der Verfasser insbesondere die Erinnerung an den kollektiven "Aufbau" und die Konflikte zwischen einheimischer Bevölkerung und zugezogenen Arbeitskräften. Das Projekt Žďár gipfelte in den Siebzigerjahren in der gezielten Zerstörung des historischen Stadtkerns. Anschließend untersucht Sándor Horváth in einer mikrohistorischen Studie den Alltag in der ungarischen Aufbaustadt Sztálinváros. Seine beeindruckende Studie zeigt, wie schwer es den Machthabern fiel, aus dem Nichts urbanes Leben zu schaffen. Ferner thematisiert Horváth die Probleme der Staatsmacht mit jugendlichen "Rowdies", die das öffentliche Leben in der Musterstadt mitprägten. Dieses Phänomen des hooliganism oder bikinarstwo erläutert Katherine Lebow am Beispiel des polnischen Nowa Huta. Die Autorin vertritt die These, dass sich in der Geschichte Nowa Hutas Aufstieg und Niedergang des polnischen Stalinismus spiegeln. Sie kann zeigen, wie wenig der Alltag der Aufbaustadt den Idealen und den rigiden Moralvorstellungen der kommunistischen Machthaber entsprach. Probleme belasteten nicht nur die Sphäre der Arbeit, sondern insbesondere auch die Freizeitgestaltung in den neuen sozialistischen Städten.
Der vorliegende Band stellt einen wichtigen Beitrag zu einer transnationalen Historisierung kommunistischer Diktaturen in Europa dar. Nachdem im ersten langen Jahrzehnt nach 1989 insbesondere die unterschiedlichen nationalen Wege in den Blick genommen wurden, gilt es nun, einerseits zu vergleichen und andererseits die Verbindungen zwischen den einzelnen nationalen Fällen herauszuarbeiten. So könnte dann auch über akademische Spezialisten hinaus der Kommunismus als geteilte europäische Erfahrung, als eine dunkle Seite des verschlungenen Weges unseres Kontinents in der Moderne begriffen und möglicherweise besser verstanden werden.
Jan C. Behrends