Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 421 S., ISBN 978-3-506-77590-0, EUR 35,80
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Die Magie gehört schon lange zu den zentralen Forschungsfeldern der Historiografie der Frühen Neuzeit. Die Magie des 19. und 20. Jahrhunderts wird jedoch als Thema gerade erst entdeckt. Es wäre naiv anzunehmen, dass nach der so genannten Aufklärung das magische Denken verschwand oder nur noch eine Schattenexistenz in gesellschaftlichen Randlagen führte. Alte Formen von Magie und Geisterglauben dauerten fort, neue entstanden. Im Gefolge Swedenborgs etablierte sich vor allem im gehobenen Bürgertum der Spiritismus als eine neue Form des Glaubens an Totengeister. Für den angelsächsischen Bereich kann der Spiritismus als vergleichsweise gut erforscht gelten. Diethard Sawicki hat mit seiner Dissertation einen ersten umfassenden Überblick über den Geisterglauben und Spiritismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts vorgelegt. Sawicki gibt sich in seiner Rolle als Forschungspionier selbstbewusst: Es fehlen nicht nur ein Überblick über die zugegebenermaßen spärliche ältere Forschung zum deutschen Raum, sondern auch vergleichende Blicke auf die Historiografie des Spiritismus in anderen Ländern.
Sawickis Herangehensweise ist wohl überlegt und überzeugend: Geisterglaube und Spiritismus werden sowohl als Ensemble von Ideen als auch als soziale Praxis erfasst. Die Grobgliederung seiner Monografie bildet dieses Ziel ab: Das Buch zerfällt in vier große, chronologisch orientierte Teile. In jedem Teil erscheinen Überblickskapitel, in denen Sawicki die Entwicklung spiritistischen Gedankenguts wiedergibt, wobei er die publizistische Debatte stets in ihrem politischen und sozialen Umfeld verortet. Diesen Überblicken stellt er in jedem der vier Teile Fallbeispiele an die Seite, narrative Mikrostudien zur konkreten Realisierung und Aktualisierung des Geisterglaubens. Zwischen den jeweiligen Teilen leistet sich Sawicki "Intermezzi": Weitere Fallstudien, die Grenzen und Übergänge in der Entwicklung des Geisterglaubens beleuchten sollen. Für diese Gliederung spricht ihre Transparenz. Es bleiben jedoch Zweifel, ob das erklärte Ziel der Darstellung, nämlich die 'Ideengeschichte' des Geisterglaubens mit der Praxis der Geistergläubigkeit zu verflechten, dadurch erreicht wird, dass die Fallbeispiele so deutlich separiert werden. Sie nahtlos in den Diskurs einzupassen sei, wie Sawicki feststellt, nicht möglich und nicht wünschenswert. Wenn dies akzeptiert wird, muss jedoch gefragt werden, wieso die sehr ausführlichen Schilderungen der einzelnen Fälle nötig sind. Sawicki erzählt mit spürbarem Vergnügen, und man lässt sich auch einmal von Geschichten über fliegende Schinkenknochen und Karl Mays spiritistisch gedeutete Eheprobleme unterhalten. Die knappen Analysen der nacherzählten Quellen stehen zur ausufernden Narration jedoch in keinem Verhältnis. Man gewinnt den Eindruck, dass die Freude über die 'schöne' Quelle den Autor dazu verführt hat, großzügig mit der Zeit seiner Leserinnen und Leser umzugehen. Den roten Faden, der die Darstellung zusammenhält, spinnt Sawicki auf diese Weise jedenfalls dünn.
Sawickis Begeisterung für die eigenen Ergebnisse, die ihn am Ende seines Werkes zu der Feststellung führt, dass ohne Aufmerksamkeit für verschiedene Formen des Geisterglaubens weder eine Kultur- noch eine Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts möglich sei, ist verständlich. Die Untersuchung setzt mit der Rezeption von Swedenborgs Geisterlehre im deutschsprachigen Raum ein. Dass Sawicki den frühneuzeitlichen Geisterglauben als Kontext ausblendet, kann mit dessen Verschiedenartigkeit gerechtfertigt werden. Das Untersuchungsende im Jahr 1900 erscheint willkürlich gesetzt.
Minuziös und kenntnisreich zeichnet Sawicki nach, wie die Möglichkeit des Kontaktes mit Toten dargestellt, begründet und in die Wissensbestände der Zeit eingeordnet wurde. In einer quellengesättigten Diskursanalyse beweist Sawicki, dass der Geisterglaube des bürgerlichen Zeitalters alles andere als ein vormodernes Relikt war. Er war etabliert in seiner eigenen differenzierten Sprache und Argumentationskultur. In der Diskussion um den Kontakt mit den Toten führte vom Beginn des 19. Jahrhunderts an die Naturphilosophie das Wort. Sie löste dabei eine ältere, von verschiedenen konfessionellen Standpunkten beherrschte Debatte ab. Gedeutet durch das Weltmodell der Naturphilosophie, gewannen Somnambulismus und der Kontakt mit den Toten neue Signifikanz: Das Reich der Geister erschien als Brücke zur Sphäre des Numinosen. An dieser Stelle nahmen sich chiliastisch ausgerichtete religiöse Erweckungsbewegungen der Hellseherei an. Sie schien schließlich nichts weniger zu demonstrieren als die Möglichkeit der Gemeinschaft von Lebenden und Toten sowie die Aussicht auf neue, tiefere Gotteserkenntnis. Bereits um 1830 verlor diese Richtung des Geisterglaubens an Kraft. Sie ging auf in der katholischen Neomystik ultramontaner Prägung und in einer protestantischen Geisterlehre, welche die Geisterwelt vom Bereich des Göttlichen wieder distanzierte und sogar auf dämonologische Sichtweisen rekurrierte. Für die spiritistische Bewegung, die sich mehr als eine Generation später formierte, war ein Rekurs auf chiliastische Deutungen des Geisterwesens kaum mehr möglich. Der Diskurs hatte sich unter dem Einfluss des amerikanischen Spiritualismus weiterentwickelt. Zum eigentlichen Begründer des deutschen Spiritismus als breiter Bewegung wurde Bernhard Cyriax, der den Spiritismus in den USA kennen gelernt hatte und ihn in den 1880er-Jahren planmäßig in Sachsen und Böhmen propagierte. Anknüpfungspunkt für die spiritistische Lehre waren einmal mehr christliche Splittergruppen. Von hier aus gelang es nun aber sogar, den bisher weitgehend auf Adel und gehobenes Bürgertum beschränkten Kreis der Spiritismusgläubigen auf die einfache Landbevölkerung auszudehnen. Mit der Ausdehnung der spiritistischen Publizistik fasste der neue Geisterglaube ab den 1890er-Jahren auch im übrigen Reich Fuß. Zahlenangaben zur Anhängerschaft des Spiritismus sind angesichts der Vielgestaltigkeit und mangelnden Organisation dieser Bewegung nachgerade unmöglich: Sawicki gibt sich hier keine Blöße durch Spekulationen über 'Dunkelziffern', sondern schlussfolgert vorsichtig aus den Abonnentenzahlen spiritistischer Blätter auf deutlich unter 10.000 Spiritisten. Der deutsche Spiritismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts wies nur noch geringe Spuren chiliastischen Bewusstseins auf. Unpolitisch und vage kirchenkritisch sah er seine vornehmste Aufgabe im Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Den Wandel der Argumentationskultur des Geisterglaubens beschrieben zu haben ist Sawickis wesentliches Verdienst.
Die differenzierte Gliederung der großen Kapitel mit Zwischenüberschriften gibt das Inhaltsverzeichnis leider nicht wieder. Das Literatur- und Quellenverzeichnis verzeichnet umfassend die Literatur zum Thema. Ein zuverlässiges Personen-, Orts- und Sachregister schließt den Band ab. Sawickis Sprache ist angenehm, wenn auch nicht immer frei von Pathos; so etwa, wenn er verkündet, ein Buch nicht für die Toten, sondern für die Lebenden geschrieben zu haben. Die Lebenden, die sein Buch lesen, erfahren Neues und Wichtiges.
Johannes Dillinger