Rebecca Müller: Sic hostes Ianua frangit. Spolien und Trophäen im mittelalterlichen Genua (= Marburger Studien zur Kunst- und Kulturgeschichte; Bd. 5), Weimar: VDG 2002, 364 S., 94 Abb., ISBN 978-3-89739-269-4, EUR 46,00
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Die Dissertation von Rebecca Müller ist eine herausragende Studie zur Interpretation mittelalterlicher Spolienverwendung, die durch genaue Materialkenntnis, sorgfältige Aufarbeitung des historischen Kontexts und durch geradezu skrupulösen Umgang mit dem Quellenmaterial besticht. Gegenstand der Arbeit sind Spolien unterschiedlichster Herkunft, die im mittelalterlichen Genua vom 12. bis zum 15. Jahrhundert zu repräsentativen Zwecken von der Kirche, der Kommune und einzelnen Familien eingesetzt wurden. Ziel der Untersuchung ist es, ein differenzierteres Bild der mittelalterlichen Spolienverwendung vor dem Hintergrund der lokalen Geschichte und des kommunalen Selbstverständnisses zu entwerfen. Die Autorin will insbesondere die konkreten Motive für den Einsatz der Spolien eruieren, welche - so ihre These - in dem Verweis auf die Herkunftsorte und -kontexte der Spolien lagen, durch den die Auftraggeber historische Ereignisse oder Konstellationen in der kollektiven Erinnerung fixieren wollten. Terminologisch setzt sie diese Intention um, indem sie einen Teil der Spolien - im ursprünglichen Sinn von spolia (lat. spolium, -ii: Rüstung, Kleidungsstücke (dem Feind abgenommen); Beute, Raub) - als Siegeszeichen kennzeichnet, welche sie dann allerdings als Trophäen benennt. Die dem Feind geraubten, materiellen Zeichen des Sieges, also Trophäen, formen in diesem Sinne das offizielle Bild Genuas. Müller verschiebt somit den Fokus von der vorherrschenden ikonologischen oder formalästhetischen Betrachtung der Spolien auf eine Interpretation ihrer Verweisfunktion. Bis zu welchem Grad diese methodische Verlagerung sinnvoll und angemessen ist, bedarf zwar noch der Diskussion - in jedem Fall aber erweitert Müllers Lesart das Spektrum der Interpretationen auf konkrete, handfeste Weise.
Gegliedert ist die ungeachtet ihrer minuziös ausgeführten Argumentationen gut lesbare Arbeit in drei große Kapitel, die sich mit Spolien der Kirche (I), mit der Stadt und ihren Trophäen (II) und mit den Spolien der Familie Doria (III) beschäftigen. Abgerundet wird die Studie mit einer Untersuchung über das Grabmal des Francesco Spinola, ein Monument des 15. Jahrhunderts, worin Müller ihren eigenen Interpretationsansatz am Exempel eines als Siegeszeichen (nicht aber als Trophäe) wieder verwendeten antiken Sarkophags auf die Probe stellt (IV). Der Anhang bietet katalogartig Daten, Forschungsstand und weitere Angaben zu den behandelten Spolien. Des weiteren finden sich hier die chronologisch aufgelisteten Inschriften der Familie Doria. Ein Personenregister, ein topografisches Register und ein Sachregister erleichtern die praktische Arbeit mit dem Buch.
Die Ergebnisse und Thesen der Hauptkapitel lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die antiken Gesimse, die an mehreren Genueser Kirchen im 12. Jahrhundert als Türstürze Verwendung fanden, wurden auf unterschiedliche Weise inszeniert und mehr oder weniger imitierend ergänzt. Es handelt sich um nachantike Importe aus dem stadtrömischen Bereich, an deren Bearbeitung und Anbringung marmorari romani maßgeblich beteiligt waren. Müller wendet sich ausdrücklich gegen eine 'nationale' Interpretation, da die Genueser Geschichtsschreibung sich nicht auf Rom zurückbezieht, sondern vielmehr den Sieg über die Ungläubigen zur Identitätsstiftung heranzieht. In Ermangelung expliziter Dokumente rekonstruiert sie den historischen Kontext der mit den Pisanern ausgetragenen Auseinandersetzung um Korsika, die über den Papst verhandelt wurde. Daher interpretiert sie die Verwendung römischer Spolien als Hinweis auf das päpstliche Rom und verortet sie darüber hinaus im ständigen Wettstreit der Kommunen, dem campanilismo zwischen Pisa und Genua.
Die Trophäen der Stadt hingegen dienten der Dokumentation und Erinnerung kommunaler Siege über Kontrahenten. Verschiedene Beutestücke erinnerten im 12. Jahrhundert an die Bezwingung der Muslime - sie wurden flankiert von den pitture trionfali. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden die Trophäen aus den Konflikten mit Pisa und Venedig zunehmend mit Inschriften und Texten ergänzt, die ihre Herkunft erklärten und so den Bezug auf den Sieg, den sie memorieren sollten, deutlich machten. Angebracht wurden sie entweder an politisch bedeutsamen Gebäuden, wie dem Sitz des Capitano del Popolo, oder aber sie wurden, wie die Kette von Portopisano, dergestalt verteilt, dass sie gleichsam omnipräsent waren. Diese Trophäen sind keine Antiken; der Gestus, mit dem sie eingesetzt wurden, verdankte sich aber antiker Tradition.
Die Doria verstanden es, nicht nur ein Stadtviertel mit Palästen und "ihrer" Kirche zu besetzen - eine Topografie der Repräsentation, die eine eigene Studie verdienen würde -, sondern darüber hinaus die familiäre Repräsentation mit der kommunalen zu verquicken, indem sie durch den Einsatz von Spolien und Trophäen ihre Gentilizkirche San Matteo zum Schauplatz kommunaler Memoria machten. In ihrer Interpretation der Fassade von San Matteo mit ihren Spolien und Inschriftbändern sowie der parallel eingerichteten familiären Grablege in S. Fruttuoso gelingt es Müller, den Anspielungsreichtum wie auch die durchdachte Kombination von kommunalem und individuellem Gedenken darzulegen, der sich nicht zuletzt in der Bezugnahme der Spolien fassen lässt. Vor diesem Hintergrund überzeugt auch die Annahme, dass die zuweilen als Aufstellung des 16. Jahrhunderts angesehenen antiken Torsi der Fassade bereits im 14. Jahrhundert (teilweise ergänzt) dort ihren Platz fanden und als Trophäen, nicht aber als Kunststücke aufgefasst wurden, ebenso wie ein antiker Kopf wohl seit dem Mittelalter die Seeseite von S. Fruttuoso zierte.
Es handelt sich somit um drei verschiedene Formen des Umgangs mit Spolien, die Müller geschickt anhand dreier verschiedener Objektgruppen aus unterschiedlichen Zusammenhängen darstellt. Die wieder verwendeten antiken Architekturelemente mussten demnach in ihrer Funktion dem mittelalterlichen Kirchenbau inkorporiert und ihm angepasst werden. Erst dann, an ihrem neuen Ort, ließen sie sich auf das päpstliche Rom beziehen und auf Umwegen mit einem dort ausgetragenen politischen Konflikt. Die Trophäen der Stadt wurden ebenso explizit einem neuen Kontext eingefügt - diesmal war es jedoch ein kommunaler, und ihre Interpretation speist sich aus der Kenntnis der Objektherkunft und der meist deutlichen Inschriften. Notwendigerweise spielen zeitgenössische Dokumente bei dieser zweiten Form der Interpretation eine große Rolle. Es scheint mir jedoch zu weit zu gehen, sämtliche anderen Interpretationsansätze, die auf Grund ihrer anders gerichteten Fragestellung kein vergleichbares Quellenmaterial zur Verfügung haben (Materialästhetik oder politische Memoria), mit diesem Argument beiseite zu schieben (Kapitel II.1., 51-56). Die dritte Variante der Spolienverwendung inszenierte individuelle Meriten im Dienst an der Gemeinschaft. Auch hier sind es die Herkunft der Spolien und ihre planvolle Kombination mit Inschriften, die diesen Aspekt deutlich hervorheben. Ihrer Terminologie entsprechend, unterscheidet Müller zwischen Trophäen der Stadt und Spolien der Familie, weil letztere auf mehreren Bedeutungsebenen eingesetzt werden.
Die Problematik einer einseitigen Zuspitzung der Spolienverwendung auf ihren Verweischarakter tritt bei der Interpretation des Grabes von Francesco Spinola klar zu Tage. Der dort wieder verwendete dionysische Sarkophag nimmt sicher auch auf die militärischen Erfolge, die Francesco in Gaeta errang, Bezug. Dass Zeitgenossen ihn als Siegeszeichen des Verstorbenen verstanden haben, steht außer Frage. Dennoch sollte gerade in diesem Fall nicht ganz aus dem Blick geraten, dass dieser Sarkophag - gerade in Genua - als ein spektakuläres Stück wahrgenommen werden musste, das eben auch auf Grund seines Alters und seiner Kunstfertigkeit bestaunt wurde. Materialeigenschaften und künstlerische Gestaltung bestimmten Auswahl und Rezeption der Spolien jedenfalls auch - dies sollte neben ihrer ideologischen Bezugnahme nicht ausgeklammert werden.
Tanja Michalsky